Zum Inhalt springen

Kolumne

19/07 2021

Das schwindende Zentrum

Thomas Martin

 

Die Brache ist das eigentliche Zentrum Berlins. Genauer: Brachen bilden das eigentliche Zentrum Berlins. Brachen sind Hoffnung, Utopie. Brachen sind Leerstellen, Bruchstellen, durch die das Licht der Reflexion seinen Eingang in feststehende Texturen findet. Leider gilt das in Berlin hauptsächlich fürs Präteritum.

Berlin war für die Dauer von fast zwei Generationen die Hauptstadt aller Brachen. Weiterlesen »

 

Berliner Zeitung

17/06 2021

Die ganz Normalen

Marlene Knobloch

 

Berlin lässt sich immer auf Orte reduzieren. Das spürte ich, als ich wegzog. In Tel Aviv schoss mir am Flughafen Ben-Gurion alles mögliche in den Kopf, die Reichshauptstadt, Pogrome, neueste antisemitische Übergriffe im Prenzlauer Berg, aber der Sicherheitsmann sagte: „Oh, I love Berlin! I love the Tempelhofer Feld!“ Als mich später Israelis besuchten, wollten sie ins Berghain. Wenn mich mein Vater besuchte, wollte er ins ehemalige Stasi-Gefängnis nach Hohenschönhausen und sich das Scheitern des Sozialismus bestätigen lassen. Weiterlesen »

 

Berliner Zeitung

29/03 2021

Unter Markisen

Mads Pankow

 

Der Anblick von Markisen hat mich immer tief ergriffen: Das warme Licht, dass sich unter dem braun-orange gestreiften Polyester sammelt. Geblümte Plastiktischdecken, straff über klapprigen Tischen. Wespen drängen sich erfolglos am Bierdeckel auf dem Limonadenglas. Die brütende Sommerruhe im Paradies hinter Geranien, Petunien, wenn man im weißen Monobloc-Plastikstuhl versinkt, als wäre es eine Recamiere. Hinter Gleitsichtgläsern über Kreuzworträtseln gebeugt, passt die Welt formgerecht in zwei Dutzend Zeilen und Spalten. Weiterlesen »

 

Berliner Zeitung

14/03 2021

Das Potential der Brache

Susanne Hauser

 

Noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg verfügte Berlin über weite Brachflächen mit unkontrolliert wachsenden Pflanzen- und Tierpopulationen. Trotz des Immobilienbooms finden sich bis heute Überreste dieser Flächen, vor allem an verkehrstechnisch wenig erschlossenen Stellen. Diese restlichen Brachen stellen nicht mehr, wie in den 1980er und 90er Jahren, Herausforderungen für die Stadtentwicklung dar, sondern sind ein immer kleinerer Teil eines Patchworks aus verdichteten und durchgrünten urbanen Zonen. Weiterlesen »

 

Berliner Zeitung

27/02 2021

Anständig. Ein Verhaltensmodell

Christian Lüdemann

 

Anfang der 1960er Jahre entstand in Pankow ein größeres Wohnviertel. Es liegt an einer der Ausfallstraßen Richtung Norden. Als Erstklässler bezeichnete mein Bruder auf dem Adressfeld einer Ansichtskarte aus dem Ferienlager die Straße als Brennesselauer Bominnade. Unsere Familie gehörte zu den ersten, die dort einzogen. Im Haus wohnten auf jeder Etage zwei Familien, man grüßte sich freundlich. Es gab keinen Hausgemeinschaftskeller, keine gemeinsamen Feste: Jeder machte seins, man ließ sich in Ruhe. Nur die Kindergeburtstage übertraten diese Schwelle. Weiterlesen »

 

Berliner Zeitung

18/02 2021

Die Stadt in meiner Hand

Marie-Pierre Bonniol

In seinem Gedicht „La vue“ (1904) beschreibt Raymond Roussel eine Diorama-Landschaft im Innern der als Lupe dienenden Glaskugel seines Füllfederhalters und schildert in zahllosen Einzelheiten die Ereignisse dieser im Instrument seines Schreibens enthaltenen Welt. In seinem Roman „Fluchtplan“ stellt sich der argentinische Schriftsteller Adolfo Bioy Casares eine lediglich gezeichnete Landschaft vor, die durch eine Veränderung der Sehnerven sichtbar und räumlich erlebbar wird.  Weiterlesen »

 

Berliner Zeitung

29/01 2021

Der Polizist als Modellfall

Gerhard Hommer

Babylon Berlin kann uns glauben machen, ein charismatischer Kriminalpolizist wie Gereon Rath verkörperte das Berlin der angeblich schillernden 20er Jahre. Ein Wahrzeichen der Epoche und Stadt war aber vielmehr der ganz und gar nicht glamouröse Schupo. Warum ist das so? Die Reichshauptstadt wurde historisch just in dem Moment zu Groß-Berlin, da das Deutsche Reich seine Großmachtstellung mit dem Ersten Weltkrieg eingebüßt hatte. Auf die Allüren als Weltmacht folgte die Stilisierung Berlins als „Weltstadt“. In der Weimarer Republik wurde die politische Agenda neu sortiert. Die Außenpolitik hatte nicht mehr oberste Priorität. Weiterlesen »

 

Berliner Zeitung

04/01 2021

Unbefleckte Empfängnis

Olga Hohmann

Neulich verbrachte ich längere Zeit auf der Unfallstation des Urbankrankenhauses. Wenige Tage nach meiner Einlieferung fing ich an, in meinem hinten offenen Krankenhaushemdchen durch das Gebäude zu schlendern – noch leicht benommen von meinem Fahrradsturz und deshalb ungewöhnlich schamlos. Stundenlang sah ich aus dem Fenster im Flur auf die Trauerweiden, die ihre langen Haare in den Landwehrkanal hängen ließen, und auf das Geschehen zwischen ihnen. Zu jeder Tages- und Nachtzeit lungerten dort Bier trinkende Menschen herum und fütterten die über das Wasser gleitenden Schwan-Familien mit ihrem Müll. Weiterlesen »

 

Berliner Zeitung

18/12 2020

Betrachtung eines Denkmals

Irina Rastorgueva

Mehr als in jedem anderen Land spürt man bei den Deutschen den Unterschied in der Bewertung historischer Ereignisse und Persönlichkeiten. Diese bewundernswerte Meinungsvielfalt wurde nach der Vereinigung von West- und Ostdeutschland noch einmal besonders auffällig. Vor allem für jemanden, der wie ich aus Russland kommt.

Der Ernst-Thälmann-Park und das dazugehörige Monument wurden zum leuchtenden Beispiel für die Begegnung gegensätzlicher Ideologien. In der DDR war Thälmann der von den Nazis ermordete Kommunistenführer und ein idealer Nationalheld. Weiterlesen »

 

Berliner Zeitung

09/12 2020

Spazieren in #berlin

Steffen Greiner

Berlin ist ein mittelalter weißer Dude mit einem mächtigen Bart, Achtziger-Brille und Neunziger-Kappe vor einem Kebabladen. Der Mann ist grade quasi das Profilbild von Berlin, das Bild, das den Hashtag #berlin auf Instagram symbolisiert, an diesem Tag, in dieser Stunde im November. Gleich wird er ersetzt werden, durch das Bild eines Baums im Herbstlicht, dann durch eine Frau mit asiatischen Wurzeln in Achtziger-Fotoästhetik. Über 45 Millionen Fotos tragen die Raute mit dem Schlagwort in der Bildunterschrift. Sie alle kommen zusammen, sucht man auf „Insta“ nach „#berlin“.  Weiterlesen »

 

Berliner Zeitung

26/11 2020

Hello to Berlin

Giselle Bernard

Der Tag wurde gerade zur Nacht und wir hatten uns entschieden, da zu bleiben. Eine Frau singt von Elefantenmüttern, ihr Schatten wiederholt sich an der Wand; rot, blau, gelb und lila. Sie singt von kleinen Sachen: Muscheln, Brot, was hätte sein können, Insekten. Sie hört auf und ich merke, ich habe sie während des ganzen letzten Liedes angelächelt.

Ich will weinen. Nicht weil ich traurig bin, sondern weil es sich plötzlich so anfühlt, als hätte es keinen Zweck mehr, etwas zurückzuhalten. Sie sagt, ihr Name ist Alex Spencer; man solle ihr Album kaufen. Ich frage mich, ob das schnelle Vorbeifliegen diese Momente besonders wertvoll macht, oder besonders vergeblich. Hätten wir die Ewigkeit, wär es egal. Würde alles jetzt enden, wär es egal. Stattdessen haben wir dieses Zwischending: Zeit. Weiterlesen »

 

Berliner Zeitung

15/11 2020

Der Dauerwaldvertrag von 1915 oder ein Sieg des Gemeinwohls

Zur Geburt Groß-Berlins aus dem Geist des Waldes

Hanns Zischler

Das südliche Ende der von Max Taut 1918 entworfenen Siedlung Eichkamp wird einem kurzen Weg begrenzt. Der Dauerwaldweg beginnt westlich des S-Bahnhofs Grunewald und verliert sich nach ein paar hundert Metern in einem Waldweg. Wegbeschreibung und Name legen nahe, dass hier etwas scheinbar Selbstverständliches betont wird. Ein Gedankenstrich im Text der Stadt. Weiterlesen »

 

Berliner Zeitung

12/11 2020

Die doppelte Kantstraße, Episode 03

Grashina Gabelmann

und Fabian Saul

Franz Hessel ging die Kantstraße entlang. Du gehst die Kantstraße entlang. Auf dem Bildschirm im Inneren von McDonalds läuft ein Reisekanal. Du liest den Satz: „Flucht aus dem Alltag“. Daneben ein Bild aus der Mitte eines Zebrastreifens in New York, drei Taxis nähern sich der Kamera. Alles ist schwarz-weiß; nur die Taxis sind gelb.

Berlin in den Zwanzigern, letztes Jahrhundert. Christopher Isherwood ist hier, als sie noch alle da sind, angezogen von einer Liberalität gegenüber Homosexuellen, die der Stadt schmerzlich schnell abhanden geht. Einmal kommt Paul Bowles zu Besuch. Weiterlesen »

 

Berliner Zeitung

22/10 2020

HEL on earth

Michael Busch

In den Zehner Jahren des 20. Jahrhunderts war der Weiße Stier im Humboldthain ein beliebter Treffpunkt für Verliebte. Magische Kräfte und Fruchtbarkeit wurden ihm zugesprochen. Ähnlich geheimnisumwittert ist der Stierbrunnen aus Rotem Porphyr am Arnswalder Platz im Bötzowviertel. Eine Unglückliche hatte in dem hohen uneinsehbaren Trog ihr Neugeborenes ausgesetzt, dessen leises Wimmern, vom Halbrund der Schale verstärkt, tagelang durch das Viertel wehte und die Einwohner verstörte. Der größte Ochse von Berlin aber steht am Alboinplatz und überblickt ein Toteisloch. Weiterlesen »

 

Berliner Zeitung

10/10 2020

7 Flughäfen

Thomas Martin

Man kann von Berlin sagen, was man will, doch eines kann man nicht verschweigen: es ist eine hochfliegende Stadt. Nicht nur seiner oft verfehlten Ambitionen wegen, nein, auch frei von Metaphern in Betracht seiner aeronautischen Herkunft. Alle sieben Flughäfen, von denen zwei derzeit eher weniger als mehr betrieben werden, entstanden vor dem Hintergrund kriegsnotwendiger Nutzung. Sie waren Militärflugfelder. Aus der Sicht des Medientheoretikers Friedrich Kittler, der Popmusik als Mißbrauch von Heeresgerät definiert hat, ließe sich leichthin sagen, Berlin, das ist der Mißbrauch von Flughäfen.

Daß auch ziviles Fliegen vom Tod herkommt, daran erinnert mit Ausnahme des gestürzten Flugpioniers Otto Lilienthal, der für TXL immer noch mit seinem Namen bürgt, heute wenig. Weiterlesen »

 

Berliner Zeitung

01/10 2020

Das Kulturforum der Flaneure

Stephan Schütz

Berlin stellt in diesen Tagen die Vorherrschaft des Autoverkehrs infrage: Pop-up-Radwege machen stark befahrene Straßen zu einspurigen Passagen, die Friedrichstraße oder die Bergmannstraße wurden sogar abschnittsweise ganz für den Autoverkehr gesperrt, was zugleich den Handel beleben soll. Wäre es nicht denkbar, Kultur und Bildung am Kulturforum einen ähnlichen Stellenwert einzuräumen?

Was hätte der Philosoph und Kulturkritiker Walter Benjamin wohl gedacht und notiert, wenn er dieser Tage zwischen Landwehrkanal, St. Matthäus-Kirche und Potsdamer Platz unterwegs gewesen wäre? Weiterlesen »

 

Berliner Zeitung

23/9 2020

An der Peripherie

Annett Gröschner

An einem Sonntag in diesem Sommer, Berlin diskutierte wieder mal Straßenumbenennungen, fragte ich mich, auf dem Weg nach Hellersdorf, wem in Berlin das angemessenere öffentliche Gedenken zuteil wird: Bärbel Bohley oder Maxie Wander.

Nach Bärbel Bohley ist seit 2016 die Ringstraße eines Neubauviertels am Mauerpark zwischen Wedding und Prenzlauer Berg benannt – durchschnittliche Investorenarchitektur, einer Gated Community nicht unähnlich, nur sind die Zäune unsichtbar. Das Viertel verkörpert etwas, das der Bürgerbewegten Bärbel Bohley fremd gewesen sein muss, sonst wäre das mit dem Neuen Forum 1989 nichts geworden. Aber es ist eine Straße innerhalb der Ringbahn, das steigert die Bedeutung der Person. Weiterlesen »

 

Berliner Zeitung

17/9 2020

Ein Paradies von einer Stadt

Thomas Martin

Berlin von außen gesehen, was ist das? Die Hauptstadt Europas? Insel des Wohlstands? Das Dorf zwischen Moskau und Paris? Konglomerat aus Dörfern, Kleinstädten, Gemeinden, Rändern und Mitten, die sich jede für das Zentrum halten? Letzteres scheint nicht selten so; beim Umgang mit der Verwaltung zuerst. Und es ist nicht das dauerzubelächelnde Provisorium, das Baustellenwalhall, der coole-Sprüche-Abreißkalender („verflucht, immer zu werden, niemals zu sein“). Weiterlesen »

 

Berliner Zeitung

09/9 2020

Im Zoo

Marcus Steinweg & Thomas Martin

1910 beschreibt Robert Walser den „abessynischen Löwen im Zoologischen Garten“. Sein Blick richtet sich auf Erscheinung wie Verhalten des Tiers. Er erkennt einen Schauspieler, dessen Inszenierung vor Publikum kontrolliert dramatisch ausfällt, einen Tragiker, den nichts aus der Fassung bringt. Er bewahrt Ruhe noch dann, wenn er sich dem Drama seiner Sterblichkeit öffnet, Größe noch, wenn er gähnend die sanierten Fangzähne zeigt. Walser skizziert ihn als würdevolles, zugleich wildes Tier. Darin liegt seine Kunst: In der Simultaneität von Anmut und Gefährlichkeit: „Er ist sein eigener Dichter, sein eigener Spieler.“ 

 

Berliner Zeitung

27/8 2020

Die doppelte Kantstraße, Episode 02

Grashina Gabelmann, Fabian Saul

Du wartest an der Ampel. Der Bus M49 entlädt eine Gruppe von Menschen, die sich nicht zu kennen scheinen, vor dem McDonalds an der Ecke Wilmersdorfer Straße. Sie gehen alle in eine andere, ihre eigene Richtung. Du hast die Grünphase verpasst.

Stell deine Füße auf den Asphalt, der ein Muster hier und ein anderes dort hat, und deine Füße passen genau dazwischen. Und gehorchen sie jetzt? Und wird der Asphalt halten?

Neben dem McDonalds: ein Best Western Hotel. Kanthotel. Die Überreste einer überfahrenen Taube entpuppen sich als Müll, den du nicht entziffern konntest. Auf das beste hoffen, das schlimmste erwarten. Der Aufzugsschacht in der Mitte des Hauses schneidet durch das Gebäude, er etabliert ein Herz aus Glas. 

 

Berliner Zeitung

24/8 2020

„Alles muss man selber machen“ – Berliner Eigenständigkeit als Ressource

Andrej Holm

Eltern nach den Homeschooling-Monaten kennen es vielleicht. Jahrelang kann die Unzufriedenheit mit dem Schulsystem nur mühsam unterdrückt werden, doch jetzt mit der eigenen Verantwortung für die Vermittlung des Unterrichtsstoffs ist es auch nicht richtig. Die Freiheit, selbst die Dinge in die Hand zu nehmen, und die Erwartung, dass der Staat für die wesentlichen Grundbedürfnisse da ist und die auch noch gut organisiert, stehen nicht nur in Corona-Krisen-Zeiten im Kontrast zueinander. Doch gerade die Berliner Stadtentwicklungsgeschichte ist reich an Beispielen, in denen Selbstorganisation, Eigeninitiative und staatliches Handeln eine innovative Koexistenz eingingen und sich ergänzten.

 

Berliner Zeitung

18/8 2020

Berlin mo-kei

Nobukazu Takemura

Seit meiner Schulzeit interessiere ich mich für Literatur, Musik und Architektur und erfuhr durch ins Japanisch übersetzte Bücher, dass Berlin um 1920 ein Brennpunkt kultureller Ausstrahlung gewesen war. Wenn ich auf Straßenschildern Namen wie Tucholsky, Eisler oder Schleiermacher finde, spüre ich neben einer tiefen Bewegtheit wieder diese Anziehungskraft. Die Kunst, mit der ich in Berührung kam, besitzt eine bindende Kraft, und sie bindet mich am stärksten an Berlin.  

 

Berliner Zeitung

14/8 2020

Freiräume. Ein Plädoyer fürs frühe Risiko

Franziska Hauser

Lässt man Berliner Schüler, egal welchen Alters, Zeichnungen anfertigen, von der gewünschten Innenausstattung ihrer Schule, erhält man lauter Höhlen. Podeste zum Hineinkriechen und Verstecken, Bauwagen mit Gardinen in entfernten Ecken des Schulhofs, Gärten mit Verschlägen, Räume zum Separieren, am liebsten auf dem Dach, im Keller. Die Sehnsucht, sich der Bewachung zu entziehen, wird stärker, je weniger wir sie zulassen. Wir lassen uns von Geländern leiten, von Markierungen führen, von Kameras beobachten, dürfen uns nicht setzen, wo Menschenströme sich bewegen, nicht bleiben, wo wir nicht zahlen.

 

Berliner Zeitung

04/8 2020

Berliner Apoikíes

Steffen Greiner

Der Begriff „Metropole“ ist ein kolonialistischer. Er stammt aus dem Griechischen und bedeutet „Mutterstadt“. Im Begriff stecken die Töchter: In der Antike ist eine Metropole jene Stadt, die als Konsequenz einer Krisenphase – Überbevölkerung, Nahrungsmittelknappheit, innere Zwiste – ihre Söhne aussendet, an neuen Ufern Tochterstädte zu gründen. Der Ursprung des Konzepts der Kolonie liegt in diesen Gründungen, die wenig mit dem neuzeitlichen Kolonialismus als Instrument imperialer Machtausdehnung gemein haben, wenn auch sie eine Geschichte von Verdrängungen, Vernichtungen und Identitätskonflikten erzählen, denn auch die Buchten, Halbinseln, fruchtbaren Weiden, an denen diese Städte entstehen, tauchen nicht, wie im Videospiel, ohne ihre Geschichte aus dem fog of war auf.

 

Berliner Zeitung

30/7 2020

Mahnmal für
ein Mahnmal

Irène Bonnaud

Als ich als Teenager zum ersten Mal nach Berlin kam, fand ich die Stadt unverständlich und heruntergekommen. Berlin hat mir sofort sehr gut gefallen, genau deshalb. Viel besser als meine Heimatstadt Paris, früher die Hauptstadt und heut ein Museum des 19. Jahrhunderts. Meine Mutter, die in der Verwaltung des Auswärtigen Amtes arbeitete, nahm mich immer mit, um den Tag in Ostberlin zu verbringen, und wir schafften es nie, das Geld vor Mitternacht auszugeben. So landeten wir in der Bar eines Hotels Unter den Linden, wo wir den Rest für Cocktails auf den Kopf hauten. Ich hörte, wie der kubanische Barmann mit meiner Mutter auf Spanisch sprach: “El clima aquí, señora, es duro, muy duro.” 

 

Berliner Zeitung

20/7 2020

Benjamins Berlin

Erdmut Wizisla

Der Schriftsteller Walter Benjamin starb vor knapp achtzig Jahren in einem Ort an der französisch-spanischen Grenze, wo niemand ihn kannte. Gelebt hatte er zuletzt in Paris, aber zuvor, gut vierzig Jahre, in Berlin. Hier wurde er geboren, hier hat er studiert, geliebt, geheiratet, Erfolge gefeiert, aber hier hat er auch lernen müssen, sich ins Scheitern einzuüben. Benjamin war Berliner durch und durch. Er war vertraut mit den Straßen, Parks und Denkmalen, mit Redaktionsstuben, Cafés, Theatern, den Sprechsälen der Jugend und den „Quartieren / Der Liebe niedrigster Art“.  

Berliner Zeitung

29/6 2020

Kantstraße, Fragmente (1)

Grashina Gabelmann, Fabian Saul

Ich komme an einer Bäckerei vorbei / Sie ist von einem Gerüst bedeckt / Eine alte Dame hat sich gerade einen Kaffee und ein Brötchen geholt / Kein Tisch zum Setzen, sie nimmt das Gerüst / Darauf stellt sie ihren Kaffee, die Ellbogen gestützt blickt sie auf die Straße / Und so steht sie und isst / Die Bauarbeiten müssen nun um sie herum passieren / Ich überquere die Straße / Eine Plakette:

26/6 2020

Gleisdreieck

Olga Hohmann

In der Nähe meiner Wohnung befindet sich ein Park, den ich normalerweise nie betrete. Angesichts der „beispiellosen Zustände“ dieses Frühjahrs bin ich nun gezwungen, das Repertoire meiner Alltagshandlungen zu erweitern, und so unternahm ich einen Spaziergang dorthin.

Der auf stillgelegten Eisenbahnschienen liegende „Park am Gleisdreieck“ (der erst kürzlich aus dem Boden gestampft bzw. in den Boden hineingestampft wurde), ist von einer Mauer umgeben, die ihm den Anschein der Exklusivität einer Gated Community verleiht.

18/6 2020

Unbesiegbarer Götterbaum

Ricarda Bethke

Als 1990 die großen Streifzüge durch Berlins Mitte begannen und man merkte, wie alles besichtigt wurde, um erobert zu werden, aber noch nicht aufgeräumt und verkauft war, da schoss er auf. Grünte aus allen Ritzen, aus Treppenstufen geschlossener Polikliniken, verlassenen Bauplätzen, hinterm Brecht-Denkmal am BE, ein kleiner Wald wuchs in der Oranienburger Straße Ecke Große Hamburger, in den Höfen der besetzten Häuser wedelte er grün und friedlich, schließlich war ja Frieden ausgerufen worden. Im Monbijoupark lagerten die Halbnackten der Welt und kannten ihn nicht, den wir Götterbaum nennen.

 

Berliner Zeitung

10/6 2020

Palimpsest Kulturforum

Hannes Langbein

Es ist vielleicht eine der anrührendsten Szenen aus Wim Wenders‘ Meisterwerk „Der Himmel über Berlin“: Homer, der alte Poet alias Curt Bois, stolpert über die menschenleere Brache am ehemaligen Potsdamer Platz und sucht den Potsdamer Platz. Nur einen Steinwurf entfernt wohnen die Engel in Hans Scharouns Staatsbibliothek West.

Den „Engel der Geschichte“ hat der Literaturwissenschaftler, Kunstkritiker, Philosoph und Großberliner Flaneur Walter Benjamin nach einem Bild von Paul Klee – „Angelus Novus“ – noch vor den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges beschrieben: Mit weit aufgerissenen Augen schaut er auf die Trümmer des 20. Jahrhunderts. Er versucht die Bruchstücke wieder zusammenzufügen. Aber es gelingt ihm nicht, weil ihm der Sturm des Fortschritts ins Gesicht weht

 

Berliner Zeitung

06/6 2020

Die Spartaner waren auch hier

Walter Szevera

17 Städtepartnerschaften pflegt Berlin, aber unter all den Metropolen fehlt eine, die mit Berlin einiges an historischen Parallelen aufweist, nämlich Athen. Sieht man von militärischen Grausamkeiten und finanzpolitischen Härten ab, die in den letzten 80 Jahren wellenartig von Berlin an Athen verübt wurden, haben beide Städte eine bedeutende Gemeinsamkeit, die bisher offenbar übersehen wurde: die attische Antike und die großflächige Zerstörung derselben durch die Spartaner. 

 

Berliner Zeitung

28/5 2020

Von einer Zwischenzeit zur anderen

Guillaume Paoli

Die Gedenkfeier „100 Jahre Kapp-Putsch und Generalstreik“ ist abgesagt, und das aus zwingendem Grund: In der Stadt herrschen heute wie damals Ausnahmezustand, Versammlungsverbot und Produktionsstillstand. Ebenfalls ist die Ausstellung „75 Jahre Berliner Schwarzmarkt“ storniert. Derweil wird an Straßenecken heimlich gehandelt, allerdings dienen als allgemeine Tauschmittel nicht wie früher Zigarettenschachteln, sondern Klopapierrollen – eine späte Bestätigung von Freuds Analtheorie des Geldes.

 

Berliner Zeitung

15/5 2020

Fenster der Nationen

Irina Rastorgueva

Fenster, ich habe die Angewohnheit, auf Fenster zu starren. Ein Fenster scheint nur ein Detail zu sein, aber der Teufel steckt ja eben da. Ich habe die meiste Zeit meines Lebens in Russland verbracht, 33 Jahre, um genau zu sein. Drei Jahre im Anschluß in Moskau, seit drei Monaten lebe ich in Berlin. Bei meinem ersten Besuch hier war ich überrascht vom heftigen Unterschied in der Fensterkultur. Wie kann man so demaßen unterschiedlich mit Fenstern und Balkonen umgehen? Erklären konnte mir das niemand.

 

Berliner Zeitung

29/4 2020

Psychogeografie des Notstands

Steffen Greiner

Die Mental Map dieser Stadt dürfte sich für die meisten Berliner gerade neu zeichnen, die gefühlte Geografie der Stadt ist in Bewegung. Auf der ersten psychogeografischen Karte, Guy Debords „Psychogeografischer Stadtführer von Paris“ (1957) setzt der Theoretiker der Situationistischen Bewegung scheinbar willkürlich Schnipsel eines Stadtplans zusammen und verbindet sie mit Pfeilen:

Die Stadt, in der Wahrnehmung einer U-Bahn-Reisenden, in Ausschnitten.

 

Berliner Zeitung

21/4 2020

Offene Gesellschaft geht viral

Wolfgang Engler

Dann kam COVID-19 und unterwarf die offene Gesellschaft einer schweren Prüfung. Die Pandemie wirft das vertraute Leben aus der Bahn. Das Und-so-Weiter allen Handelns und Erlebens – urplötzlich ausgehebelt. Weiter, ja, aber nicht so; Prüfen,

Verwerfen von Üblichkeiten, Verbindlichkeiten, Verabredungen. Die Gegenwart zieht ihren Zukunftsschatten ein. Von Tag zu Tag greift die Krise auf immer weiter entfernte Vorhaben zu und legt sie still.

 

Berliner Zeitung

06/4 2020

Mutter Heimat

Thomas Martin

Wenn alle drinnen sitzen, sitzt sie draußen. Das, soweit ich mich erinnern kann, seit – ich kann nur ein Jahr ungefähr schätzen. Sie lebt auf der Straße, der Greifswalder, in den freien Nischen verlassener Geschäfte. Auf Schaufensterbänken. Die Straße ist lang. Die Winter sind warm, aber es sind immer noch Winter.

Sie hat sich, uns gegenüber, an der Straßenecke eingerichtet, ihren Haushalt dazu. Manchmal läßt sie ihn, im Einkaufswagen in Müllsäcke verpackt, zurück und hält sich anderswo auf. Wo, ist nicht zu sagen.

 

Berliner Zeitung

 

27/3 2020

Ich bin das Schnitzel

Michael Busch

Es ist ein nachdrücklicher Moment in Schwarzweiß. Die junge Katharina Thalbach mit ihrem Bubikopf lehnt sich aus dem halb geöffneten Fenster,

blasses Sonnenlicht fällt in die gute Stube, schaut nach oben in die Sonne, schaut in den Himmel. Und mit ihr begreifen auch die Zuschauer die Veränderung. Es herrscht Stille! Die Abwesenheit von Lärm wird in ein präzises Bild gegossen. Bis zu diesem Moment ist der Fluglärm im Film „Engel aus Eisen“ von Thomas Brasch allgegenwärtig.

 

Berliner Zeitung

19/3 2020

Höher bauen für Berlin

Sergei Tchoban

Vor Kurzem wurde mir ein Buch über die Entwicklung des Berliner Stadtkerns geschenkt. „Mitte auf Augenhöhe“, erschienen im Lukas Verlag, vergleicht die Stadtperspektiven des 20. Jahrhunderts vor dem Krieg mit aktuellen Fotos. Es beginnt mit den Worten: „Stadtverlust ins Bild gerückt: die urbane Fülle der Vorkriegszeit und der heutige Mangel an Urbanität in der Mitte Berlins“.

 

Berliner Zeitung

 

04/3 2020

Fahrradhindernisparcour Berlin

Annett Gröschner

Als ich 1983 nach Berlin zog, nahm ich mein Fahrrad selbstverständlich mit. Ich kam aus einer Fahrradstadt, in der in den 1920er Jahren der Breite Weg, die Hauptverkehrsader der Industriestadt, stundenweise für Fahrräder gesperrt worden war, damit Autos auch mal die Möglichkeit hatten, mehr als Schritt zu fahren. Die Stadt durchzog auch sechzig Jahre später noch ein Netz von Fahrradwegen. In der Innenstadt von Ostberlin fuhr Anfang der 1980er kaum jemand Fahrrad.

 

Berliner Zeitung

12/2 2020

Mein Sachalin-Berlin

Irina Rastorgueva

Alles, was ich über Berlin in meiner Kindheit wusste, war die abgeflachte Vorstellung vom Sieg über das faschistische Deutschland und als dazugehöriges Symbol die Fahne der UdSSR, die über dem Reichstag steht. Meine Generation kam mit dem letzten Atemzug der Sowjetunion zu Welt, die Ideologie war noch stark und der ganze Stolz war unser Sieg im Großen Vaterländischen Krieg, sein Triumph die Einnahme der deutschen Hauptstadt.

 

Berliner Zeitung

06/2 2020

Balu Berlin

Michael Busch

Der Ostbär hat auf jeden Fall die längere Zunge. Warum hat dieser Bär eine rote Zunge? Sie ist dünn und lang und reicht über den dicken Bauch hinaus. Er züngelt, als wollte er wie ein Frosch Insekten fangen. Ist der Berliner Bär ein verkleideter Frosch? Ein Hybrid, der im Wasser und auf dem Land leben kann? Berlin ist tatsächlich immer nah am Wasser gebaut, wenn es um seine Größe, seine Bedeutung geht. Flüsse, Seen, Gewässer, Kanäle machen einen großen Teil seiner Stadtfläche aus.

 

Berliner Zeitung

03/2 2020

Trauerkultur

Steffen Greiner

Für eine Stadt, die den Tod in ihrer Mitte trägt, weiß Berlin erstaunlich wenig von der Trauer. Im öffentlichen Raum kommt sie allenfalls in routinierten Ritualen der Kranzablage vor. Für die Generation Ü60 steht Berlin noch immer für Krieg, Terror und Völkermord, es ist der Stadt bloß rabiat egal. Das gilt erst recht für das Abseits der großen Geschichte. Die Friedhöfe zwischen Neukölln und Wedding sind Parks, die sich mit Berliner Ehrengräbern für Geheimräte und Stadtbaumeister des 19.

 

Berliner Zeitung

 

28/1 2020

Späti International

Hannah Schopf

Es gibt einen Dialog, den Murat und ich fast formelhaft aufsagen, jedesmal, wenn ich in seinen Späti komme. Er geht so:

  • Hannah: Hallo!
  • Murat: Hannah, hallo, wie geht’s?
  • Hannah: Ach ja, ganz gut, viel zu tun. Und du?
  • Murat: Gut, aber ich bin müde, weißt du.

 

Berliner Zeitung

27/1 2020

Nicht Ohne Gespenster

Marcus Steinweg

Liest man Walter Benjamins Berliner Kindheit um Neunzehnhundert gewinnt man den Eindruck, in ein Schreiblabor geraten zu sein. So abgeschlossen einzelne Texte des Manuskripts auch sein mögen, so stark kommunizieren die Texte untereinander. Man meint, sie tuscheln und wispern zu hören. Das Ganze brodelt noch und fügt sich nicht in eine endgültige Form. Man hat den labyrinthischen Zug von Benjamins Schreiben hervorgehoben. Man müsste ergänzen, dass jeder Text wie eine Kammer oder ein verwunschenes Zimmer an die Gesamtstruktur des zum Buch gewordenen Labyrinths anschließt.

 

Berliner Zeitung

10/1 2020

Zwei Berliner Hälften

Luise Meier

Berlin muß man sich erst verdienen. Mein Bruder und ich sind Halbgeschwister, 0,5 Geschwister und zwei mal fünfzig Pfennig sind eine Mark. Was ich definitiv schon als Kindergartenkind weiß, weil mein drei Jahre älterer 0,5-Bruder mich als Juniorpartnerin in einige seiner Geschäfte im für uns 1989 frisch eröffneten Westberlin einbezieht. Ungefähr zu der Zeit, als meine Mutter mich im KaDeWe verliert, dafür aber meiner Puppe ein Samtkleid klaut. Das hebt sich auf. Äquivalententausch.

 

Berliner Zeitung

10/1 2020

MODELL BERLIN oder: Was ist so groß an Groß-Berlin?

Thomas Martin

Dass Leben Spuren hinterläßt, gilt als relativ bekannt. Es fängt mit der Geburt, der wir uns so schwer entziehen können, an. Wir wachsen, wohnen, arbeiten, wir zeugen Kinder oder lassen sie zeugen. Wir adoptieren, produzieren, vernichten, töten, vergehen – all das erzeugt Spuren. Wir hinterlassen Spuren und das Leben hinterläßt Spuren in uns. Sogar und erst recht das Verstecken erzeugt Spuren. „Je luftiger ein Versteck, desto geistreicher. Je freier es dem Blick nach allen Seiten preisgegeben, desto besser.“ Das sagt der Urberliner Walter Benjamin. Wir müssen nur auspacken, was in der Luft liegt. Auspacken heißt erzählen und erzählen ist Kultur.

 

Berliner Zeitung