Thomas Martin
Die Brache ist das eigentliche Zentrum Berlins. Genauer: Brachen bilden das eigentliche Zentrum Berlins. Brachen sind Hoffnung, Utopie. Brachen sind Leerstellen, Bruchstellen, durch die das Licht der Reflexion seinen Eingang in feststehende Texturen findet. Leider gilt das in Berlin hauptsächlich fürs Präteritum.
Berlin war für die Dauer von fast zwei Generationen die Hauptstadt aller Brachen. Als Brachenverursacherin – hier war das politisch verantwortliche Zentrum, das zwei Weltkriege auslöste, die den Globus weitflächig zu Brachland machen sollten – hat die Hauptstadt diesen Titel mit Recht und in Unrecht verdient.
Meine Kindheit war von Brachen gepflastert. Sie waren meist als Trümmergrundstücke kenntlich, auf denen noch Jahrzehnte nach dem Weltkriegsende Schutt geschichtet war, tonnenweise. Ich erinnere mich an die Kreuzung Unter den Linden/Friedrichstraße, wo vor dem 1966 hochgezogenen Hotelneubau gut sortierte Trümmerbacksteinhaufen lagen, die wie warme Poller die Straßenecken bewachten, wenn der Doppelstockbus um die Kurve schwamm. Ich erinnere mich an den zerklüfteten Bunker in der Köllnischen Heide bei Adlershof, der als kinderfressende Riesenschildkröte durch die Albträume meiner Mitternächte schnob. Ich erinnere mich an den von Bahnhöfen oder S-Bahnzügen aus einsehbaren Mauerstreifen, an steil abfallende Hänge längs der Bahnsteige, die wie abgeholzte Schneisen aus dem Straßenland auf die Gleise zuliefen. Ich erinnere mich an die noch nicht Nikolaiviertel benannte Mondlandschaft mit verführend beleuchteten Kneipeneingängen. Ich erinnere mich an das leere Halbrund vor dem Brandenburger Tor, das eine Asphaltbrache zwischen zwei Betonmauern war, die ein und dieselbe Mauer waren. Aber das wußte ich damals nicht. Ich erinnere mich an das Holzpodest am Horizont der Oderberger, von dem aus winkende Figuren unverständliche Gruß- oder Fluchworte in den Osten warfen, und hinter denen die Welt entweder zu Ende oder ewige Baugrube war. Ich erinnere mich an von Lücken durchsetzte Straßenzüge in allen Teilen der Halbstadt, an von ihren Eckhäusern bereinigte Straßenkreuzungen in Friedrichshain und Prenzlauer Berg, wo in meiner Kindheit, die bis 1989 gedauert haben muß, hinter Bretterwänden hauptsächlich Kohlehandlungen wucherten, bevor, als ich ab 1990 schlagartig ein alter Mann wurde, importierte Wegwerfarchitekturen aus dem westdeutschen Ausland hochgezogen wurden, größtenteils mit NETTO LIDL KAISER’S ALDI SCHLECKER unten drin, von denen es auch nicht alle mehr gibt. Aber das ist natürlich nur ein pauschal überzeichnetes Bild und ein anderer, bei Gelegenheit auszuführender Albtraum, an dem der einflussreichste Architekt Europas, Hitler, seinen Anteil hat. Oft waren in den Baulücken auch Container für Videoläden, Copy Shops oder Beate Uhse aufgestellt, während die leerstehenden Souterrainzeilen der inneren Stadt von einer weißen Banderole schlampig überpinselt waren, hinter denen, ausschließlich Kopieranstalten, die sich Copy Shops nannten, residierten.
Die Brache, der mythische Freiraum, der im besten Fall ein Grünstreifen, ein Sublimationspark war, an dem die Geschichte oder die Zukunft oder man selber sich ausruhen konnte, ist das eigentliche Zentrum Berlins. Zumindest gedanklich, denn er ist ja am Verschwinden, und wir müssen, siehe oben, vom Präteritum reden.