Michael Busch
In den Zehner Jahren des 20. Jahrhunderts war der Weiße Stier im Humboldthain ein beliebter Treffpunkt für Verliebte. Magische Kräfte und Fruchtbarkeit wurden ihm zugesprochen. Ähnlich geheimnisumwittert ist der Stierbrunnen aus Rotem Porphyr am Arnswalder Platz im Bötzowviertel. Eine Unglückliche hatte in dem hohen uneinsehbaren Trog ihr Neugeborenes ausgesetzt, dessen leises Wimmern, vom Halbrund der Schale verstärkt, tagelang durch das Viertel wehte und die Einwohner verstörte. Der größte Ochse von Berlin aber steht am Alboinplatz und überblickt ein Toteisloch. Zwischen Tempelhof und Priesterweg finden sich mehrere Toteislöcher, aber die Blanke Helle unter dem Stier vom Alboinplatz hat das geologische Ebenmass: rund, mit steil abfallendem Ufer, unergründlich tief. Dieser kleine See, flankiert von der denkmalgeschützten Siedlung Blanke Hölle und einem Friedhof, ist die eigentliche (geheime) Attraktion Berlins: Hier nämlich liegt der Eingang ins Reich Hels, der germanischen Göttin der Fruchtbarkeit und der Unterwelt. Der nächste Eingang ist erst wieder der Hörselberg bei Eisenach.
Der Philosoph Marcus Steinweg hat an dieser Stelle über Walter Benjamins Berliner Kindheit um 1900 geschrieben, dass die Texte zu „Gespenstergeschichten geraten, insofern sie sich den Unschärfeanteilen der Welt öffnen.“ Benjamins Berlinerinnerungen schildern eine Stadt, eher als Versprechen, denn als Gegebenheit.
Aus der Quantenmechanik wissen wir, dass entweder der Ort oder der Impuls scharf sein können. Hier ist der Ort scharf, der Impuls franst aus, die Stadt legt ihre Schichten aus Geologie, grobstofflicher Architektur und feinstofflicher Mythologie an dieser Stelle offen wie ein Benjaminischer Text. Wer so in die Stadt eintaucht, wird zum Archäologen des Unsichtbaren.
Hel wird zweigeteilt dargestellt, die eine Gesichtshälfte hell und schön, die andere der Verwesung preisgegeben. Sie schickt der Sage nach schwarze Stiere als Erntehelfer durch das Toteisloch nach oben. Das Stierdenkmal aber ist weiß gekachelt, dualistischer Hinweis auf das Helle, das Blankliegende, das nichts Verhehlende aus der Etymologie.
Der Bildhauer Paul Mersmann, der die Skulptur 1934 entwarf, hat angeblich eine Warnung vor den Nazis in einer kleinen Ampulle darin versteckt. Hoffte er, das Denkmal würde in späteren Zeiten geschleift und er als Visionär gesehen werden? Oder war er sich nur der Nähe zur Brekerschen Monumentalkunst bewußt und wollte gegensteuern?
Athanasius Kircher, Universalgelehrter des Mittelalters, hat in seinem Werk „Mundus Subterraneus“, die Unterirdische Welt, darüber spekuliert, daß die Seen und die vulkanischen Höhlen des Kontinents unterirdisch miteinander verbunden sind. Wer also von Tempelhof zum Hörselberg denkt, kommt an der Tannhäuser Sage nicht vorbei. Hels Reich ist dort das Liebesreich der Göttin Venus, die mit ihren Ausschweifungen den Barden Tannhäuser in ihren Bann zieht. Als der später seine Sünden beichten will, jagt der Papst ihn zurück in die Sexhöhle. Eher würde sein Kreuzstab treiben, als dass dem Barden vergeben würde. Am Ende grünt der päpstliche Stab, ohne dass Tannhäuser davon erfährt. Im Film „Blade Runner“ wird später das Tannhaeuser Gate erwähnt werden, eine Tür in Raum und Zeit, die direkt auf den Alboinplatz in Tempelhof führt. Die Stadt ist ein Versprechen.
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