Olga Hohmann
Neulich verbrachte ich längere Zeit auf der Unfallstation des Urbankrankenhauses. Wenige Tage nach meiner Einlieferung fing ich an, in meinem hinten offenen Krankenhaushemdchen durch das Gebäude zu schlendern – noch leicht benommen von meinem Fahrradsturz und deshalb ungewöhnlich schamlos. Stundenlang sah ich aus dem Fenster im Flur auf die Trauerweiden, die ihre langen Haare in den Landwehrkanal hängen ließen, und auf das Geschehen zwischen ihnen. Zu jeder Tages- und Nachtzeit lungerten dort Bier trinkende Menschen herum und fütterten die über das Wasser gleitenden Schwan-Familien mit ihrem Müll. Aus dem brutalistischen Bau beobachtet, ergab sich eine angenehm vertraute Komposition, hervorgerufen durch die sanfte Berliner Farblosigkeit, in die alle Elemente getaucht waren.
Als ich später das Gebäude für Spaziergänge verlassen durfte, bot sich am Eingang ein ähnlich harmonisches Bild – immer begegnete ich dort denselben Kette rauchenden Menschen am Tropf. Wir grüßten uns freundlich-distanziert. Ein Mann ohne Beine saß den ganzen Tag im Rollstuhl vor der Tür, rauchte Marlboros und spielte laut Streichkonzerte vom Smartphone.
In meinem mit Smiley-Nachthemd spazierte ich an der Raucherecke vorbei ans Ufer des Kanals, setzte mich zu den fremden Biertrinkenden, die keine Notiz von meiner Entblößtheit nahmen, und betrachtete die angegrauten Stadt-Schwäne. Ich erinnerte mich an eine Grundschullehrerin, die uns vor der Gefahr, die von diesen Tieren ausging, warnte: Ihr habe mal ein wütender Schwan den Arm gebrochen. Mit meiner eingegipsten Rechten beobachtete ich die Geschöpfe, die mich tatsächlich aggressiv anfauchten, und fragte mich, ob sie wirklich im Stande wären, mir auch noch die Linke zu brechen.
Auf meinem Zimmer lag eine 87jährige Frau, mit der ich mich blendend verstand. Sie war geborene Kreuzbergerin und hatte den Weltkrieg in Berlin erlebt, wovon sie mit lakonischem Witz berichten konnte. Ihr hervorragender Sinn für Humor zeigte sich auch, wenn sie versuchte, mich mit den jungen Assistenzärzten zu verkuppeln, indem sie anfing, den Hochzeitsmarsch zu summen, wenn diese in den Raum kamen. Sie war auf der Station, weil sie sich ihre künstliche Hüfte gebrochen hatte, aber nach ein paar Tagen stellten die Ärzte fest, dass ihr Bauch, unverhältnismäßig zu ihrer schlanken Figur, stark anschwoll. Nach ein paar vergeblichen Versuchen, das Problem durch Einläufe zu beheben, machten die Ärzte ein CT von ihrem Abdomen. Dabei wurde eine ein Meter lange „Raumforderung“ im Darm festgestellt.
Das Wort „Raumforderung“ist meistens ein Euphemismus für das Wort Tumor. Meine Bettnachbarin benutzte aber weder den einen noch den anderen Begriff, wenn sie von dem problematischen Ding in ihrem Darm sprach. Sie nannte es: „Das Geschöpf“. Sie machte, als Kinderlose, auch Scherze darüber, dass Gott sie jetzt doch noch mit unbefleckter Empfängnis gesegnet hatte und bezog sich dabei auf die Direktorin des Mauermuseums, die gerade ebenfalls mit über 60 Jahren schwanger geworden war.
Als ich nach einem meiner Spaziergänge zurückkam, war meine Freundin verschwunden. Ich lag allein im Vierbettzimmer und fuhr die orangefarbenen Rollos, die an der Außenfassade angebracht sind, nach unten. Sie warfen ein dunkelgelbes Licht nach innen, das mich strahlen ließ, fast so, als wäre ich im Himmel.
Olga Hohmann, aufgewachsen in Berlin und Weimar, lebt in Kreuzberg und interpretiert Berliner Phänotypen und Phänomene.