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Trauerkultur

Steffen Greiner

Für eine Stadt, die den Tod in ihrer Mitte trägt, weiß Berlin erstaunlich wenig von der Trauer. Im öffentlichen Raum kommt sie allenfalls in routinierten Ritualen der Kranzablage vor. Für die Generation Ü60 steht Berlin noch immer für Krieg, Terror und Völkermord, es ist der Stadt bloß rabiat egal. Das gilt erst recht für das Abseits der großen Geschichte. Die Friedhöfe zwischen Neukölln und Wedding sind Parks, die sich mit Berliner Ehrengräbern für Geheimräte und Stadtbaumeister des 19. Jahrhunderts überbieten und neue Grabstätten möglichst unauffällig dazwischenstreuen oder auf Urnenfelder komprimieren. Berlin ist heute nur unwesentlich kleiner als vor 100 Jahren, aber damals scheint raumgreifender gestorben worden zu sein. Wo trauert Berlin? Wo stirbt Berlin?

Kaum vorstellbar, ein Begräbnis wie das von Helmut Schmidt Ende 2015 in Hamburg. „Eine Stadt steht Spalier“, titelte der NDR. Sowas machen wir hier einfach nicht. In Berlin wurde der Sarg von Richard von Weizsäcker kurz zuvor ohne großen Aufwand durch die Stadt gekurvt. Dabei war der Mann Jahrzehnte mit der Stadt verbunden, war Regierender Bürgermeister, verlegte den Amtssitz des Bundespräsidenten von Bonn nach Berlin. Für wen hätte Berlin heute sonst die Straßen säumen sollen, wie noch 1992 für Willy Brandt? Wer könnte heute die Stadtgemeinschaft so integrierend beeinflussen? Selbst der Anschlag vom Breitscheidtplatz konnte daran nichts ändern. Berlin lässt sich nicht vereinen, nicht einmal in Trauer. Gemeinschaftstümelei, die gegen das Andere gerichtet ist, zwanghaftes Zusammenstehen und Heldenverehrung hat die Stadt verlernt. Weil sie sich massiv verändert hat, in den letzten Jahrzehnten. Glücklicherweise.

Vielleicht liegt es auch einfach daran, dass niemand hier so richtig lebt. Klar, es gibt wenige Orte im deutschen Sprachraum, die besseres Leben erlauben. Aber Wurzeln erlaubt dieser hier nur selten. Wer hier geboren wird, ist erst in zweiter oder dritter Generation Berliner. Wer hier geboren wird, will irgendwann weg, wer von sonstwo kommt, will für immer bleiben und geht dann doch wieder. Berlin ist eine Stadt des Ankommens. Danach drängt sie dich sachte wieder hinaus. Berlin, offene Stadt. Die Wurzeln der Berliner greifen nur Berliner Luft. Die Gräber der Berliner liegen in Recklinghausen und Rabat.

Wo Berlin öffentlich trauert, in einem Kollektiv abseits des privaten Umfelds, bleibt die Trauer widerständisch. Das passt zum Berlinischen Nicht-ganz-Ankommen, Nicht-ganz-hier-Sein bestens. Berlin instrumentalisiert seine Trauern, macht aus Toten Symbole, ohne das sie, wie bei den rechtsextremen „Trauerkundgebungen“ von Chemnitz oder Kandel, ganz dahinter verschwinden. Die jährliche Liebknecht-Luxemburg-Demonstration der Linken im Gedenken an die Opfer des Bürgerkrieges 1918/19 ist weder Personenkult noch reine Folklore, sondern bewegt noch immer Menschen zu Kämpfen und zeigt heute mehr denn je die Richtungskämpfe der Bewegung. Das Aufstellen weißer Fahrräder des ADFC, um Unfallorte von Radfahrern mit Todesfolge zu markieren, die dazugehörigen Trauerfahrten durch die Stadt sind gleichzeitig Ausdruck von Wut über verkehrsplanerische Ignoranz wie stilles Gedenken. Eine Form von direct-action-Trauer, die in ihrer Form ihr Begehr spiegelt.

Vielleicht liegt in solchen Zügen ein Modell für eine Trauer, die verbindet, ohne gleichzuschalten, ohne damit nur immer zu das Bestehende betrauernd zu bejahen. Vielleicht wäre eine solche Trauer eine emotionale Basis, die Wurzeln erlaubt.