Die Gedenkfeier „100 Jahre Kapp-Putsch und Generalstreik“ ist abgesagt, und das aus zwingendem Grund: In der Stadt herrschen heute wie damals Ausnahmezustand, Versammlungsverbot und Produktionsstillstand. Ebenfalls ist die Ausstellung „75 Jahre Berliner Schwarzmarkt“ storniert. Derweil wird an Straßenecken heimlich gehandelt, allerdings dienen als allgemeine Tauschmittel nicht wie früher Zigarettenschachteln, sondern Klopapierrollen – eine späte Bestätigung von Freuds Analtheorie des Geldes. Ob das geplante Jubiläum „30 Jahre Ende der DDR-Unfreiheit“ stattfinden kann, steht in den Sternen. Immerhin dürfen Bewohner im Westen wie im Osten der Stadt mit leeren Supermarktregalen und Ausreiseverboten ihre Erfahrung machen. „Es gibt wieder eine innerdeutsche Grenze“ titelt der Berliner Kurier mit klammheimlicher Freude. Und um gestrandete Touristen heimzufliegen, plant Heiko Maas eine Luftbrücke. Der Shutdown als Krisen-Reenactment. Wir erleben Geschichte. Aller nagenden Angst vor Knappheit, Krankheit und Verderben zum Trotz, schwingt das Gefühl mit: Endlich passiert etwas, das wir unseren Enkelkindern erzählen werden können! Die größte Herausforderung seit dem 2. Weltkrieg, und wir sind dabei! Die fabelhafte Welt der Pandemie! Mit etwas Glück werden wir noch „25 Jahre Coronakrise“ als Event mitgestalten dürfen. Ob man dafür schon einen Förderantrag vorbereiten soll? Bereits jetzt nutzen zwei Dutzend Schriftstellerinnen die Zeitleere, um Quarantäne-Tagebücher zu verfassen.
Wäre er noch am Leben, hätte mein ehemaliger Nachbar Otto Kuhl die ganze Chose gelassen genommen. „Kinder, dieses neue System, det ist nicht von Bestand“, pflegte er nach der Wende zu sagen. Otto hatte die sukzessiven Untergänge der Kaiserzeit, der Weimarer Republik, des tausendjährigen Reichs und des Sozialismus auf deutschem Boden erlebt. Viel nachhaltiger kam ihm die vereinheitlichte Bundesrepublik auch nicht vor. Als altberliner Pflanze wusste er: Mögen die neu errichteten Abstraktionen aus Beton, Stahl und Glas solide aussehen, sie sind auf Sand gebaut. Märkischen Sand. Für den Spargelanbau günstig, für Großprojekte wahrscheinlich ein Einsinken. Es ist nun mal so: Interessant an Berlin waren immer die Brüche, die Zwischenzeiten, die Interregna. Dass nachher nichts sein werden soll wie vorher, erregt weder Furcht noch Hoffnung, geht man zumindest von Walter Benjamins Feststellung aus: „Dass es ‚so weiter‘ geht, ist die Katastrophe.“
Neben Bordellen und (wie sie auf Amtsdeutsch heißen) „Tanzlustbarkeiten“ sind heute auch die Kirchen geschlossen, und da die Gesamtlage sowieso mittelalterlich anmutet, sei an eine alte Episode der Stadtgeschichte erinnert. 1324 wurde über Berlin ein Kirchenbann verhängt, um die Einwohner für den Mord des Propstes von Bernau pauschal zu bestrafen. Die Glocken schwiegen, kein Gottesdienst fand statt, keine Taufe, keine Ehesegnung, kein Totengeleit. Als zwei Jahrzehnte später der Bann aufgehoben wurde, hatten sich die Bewohner das kirchliche Ritual derart abgewöhnt, dass sie bei der Wiederaufnahme in lautes Lachen ausbrachen. Besonders die Jüngeren empfanden die ihnen noch nie begegneten Kulthandlungen als albern und sinnlos. Möge am Tag nach Corona eine ähnlich heitere Skepsis herrschen, wenn versucht wird, den Normalbetrieb wieder hochzufahren.