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Berlin mo-kei

Nobukazu Takemura

Seit meiner Schulzeit interessiere ich mich für Literatur, Musik und Architektur und erfuhr durch ins Japanisch übersetzte Bücher, dass Berlin um 1920 ein Brennpunkt kultureller Ausstrahlung gewesen war. Wenn ich auf Straßenschildern Namen wie Tucholsky, Eisler oder Schleiermacher finde, spüre ich neben einer tiefen Bewegtheit wieder diese Anziehungskraft. Die Kunst, mit der ich in Berührung kam, besitzt eine bindende Kraft, und sie bindet mich am stärksten an Berlin.

Dann gibt es hier auch jene Kunst, die aus Natur und kultivierter Landschaft resultiert. Die Seen, die Spree, Kanäle, Parks, Museen, Galerien und Gebetsorte … Meines Wissens ist Berlin die einzige Hauptstadt, die das bringt. Das Transportnetz zeigt sich überschaubar und im Vergleich zu japanischen Großstädten in dem Menschen angemessenen Proportionen.

An dieser Stelle kann nicht unerwähnt bleiben, dass Berlin nicht nur nette Seiten hat. Baustellen, die nie enden, kaputte Bahn-Fahrkarten-Automaten, eine Kasse im Supermarkt, an der man ewig stehen gelassen wird, Streiks verschiedener Ämter, Trägheit und Kompliziertheit der Behörden und anderes dem Ausländer unverständliches mehr, kontrastieren die Harmonie. Diese Dinge sind zwar unpraktisch und unangenehm, führen aber auch dazu, dass die hier lebenden Menschen Nachsicht und Großzügigkeit zueinander entwickeln – so scheint es mir. Möglicherweise haben die vielen ungenutzten, nur ruhenden Orte, die sogenannten Brachen einen Anteil daran.

Natürlich ist auch eine Stadt wie Tokyo sehr praktisch, allerdings um so mehr ermüdend. Es gibt 24-Stunden-Supermärkte ohne Ende, auch in Osaka und Kyoto, alles ist modern und komfortabel, doch ausschließlich auf das Funktionieren ausgelegt. Und die Leute sind vor allem eins: überarbeitet und müde. Selbst wenn es in Kyoto viele traditionelle Schreine gibt, ist es ein von Verkaufsständen überfülltes Spektakel. Die japanische Stadt scheint mehr für den konsumierenden als für den reflektierenden Menschen angelegt, wenn man Ehrfurcht, Ruhe und Demut nur noch in historischen Gebetshäusern finden kann.

Trotz der Vielfalt Berlins ist hier ein Ausgleich beibehalten – nicht nur durch rechtliche Beschränkungen, auch durch Bräuche, die mehrdeutige kulturelle Interpretationen für den Einzelnen innerhalb des Ganzen zuzulassen. Worin liegt die Natur dieser integrierenden Kraft einer passablen Koexistenz? Sicher nicht allein in seiner Erinnerungskultur.

Die Sehenswürdigkeiten Berlins, in denen sich die Schichten der Historie und ihrer Deutungen als Allegorie und Symbol zusammenfügen, haben im Lauf der Zeit einen einzigartigen Stil entwickelt. Dieser Stil entspricht einer preußischen Nüchternheit, einem Anti-Pathos. Es fühlt sich ein wenig wie das Zen des Ostens an. Bruno Taut lobte die Schlichtheit des Kaiserpalastes in Kyoto, weil er auf der fernen Insel eine Schönheit entdeckte, an die er glaubte, die er selbst entwickeln wollte. Berlin verdankt ihm viel.

Berlin schafft es durch eine Art Wurzelphänomen, die Menschen zu binden. Auch wenn es aus der lokalen Perspektive absurd klingen mag – es kann die Gnade eines Gottes oder Genius‘ sein, der, nachdem er selbst verweltlicht ist, in anderer Form auf uns wirkt: Berlin mo-kei – „als Modell“, auf Japanisch gesagt. Berlin wird weiterhin ein Brunnen der Inspiration sein für Menschen wie mich, die ihren Sehnsuchtsengeln nachjagen.


Nobukazu Takemura, Musiker und Komponist, geboren in Kyoto, hat lange in Berlin gearbeitet. Sein Minimal-Techno verbindet urbane Reflexionen in Europa und Japan.