Marlene Knobloch
Berlin lässt sich immer auf Orte reduzieren. Das spürte ich, als ich wegzog. In Tel Aviv schoss mir am Flughafen Ben-Gurion alles mögliche in den Kopf, die Reichshauptstadt, Pogrome, neueste antisemitische Übergriffe im Prenzlauer Berg, aber der Sicherheitsmann sagte: „Oh, I love Berlin! I love the Tempelhofer Feld!“ Als mich später Israelis besuchten, wollten sie ins Berghain. Wenn mich mein Vater besuchte, wollte er ins ehemalige Stasi-Gefängnis nach Hohenschönhausen und sich das Scheitern des Sozialismus bestätigen lassen. Freunde vom bayerischen Land wollten die Mauer anfassen und sich die Existenz dieses gescheiterten Sozialismus bestätigen lassen. Dann wollten alle meistens ein Bier.
Ich gehe gern in die Frischewelt bei Karstadt. Ich mag es, den Samstag zwischen Brandenburger Eierlikör und dem „internationalen Regal“ zu verbringen. Supermarktmenschen zu beobachten, die ihre Bio Company- oder Penny-Identität zwischen Hermannplatz und der Urin beträufelten Rolltreppe verloren haben. Kurz zu denken, das könnte Hannover sein, und erleichtert festzustellen, dass das, bei aller Liebe zur Normalität, immer noch Berlin ist. Das Kippeln der Stadt zwischen Welt, Wahnsinn und einer einsamen Rentnerin zu sehen.
Beim Obst und Gemüse steht angespült vom Hermannplatz ein schlotternder Junge, der seinen dürren Arm ausstreckt, und Geld statt französische Birnen sucht. Hinter ihm hält die Lateinamerikanerin an der Antipasti-Theke jedem sich nähernden ein Stück mit Olivenpaste beschmiertes Brot hin und fragt von morgens bis abends mit derselben Entschlossenheit: „Wollen Sie probieren?“ In der Schnapsabteilung kneift eine Frau die Augen über einer Flasche Mirabellengeist zusammen und fragt, ob das Whiskey ist. Dann fragt sie, wo derjenige ist, der weiß, wo der Whiskey ist. Früher! Da hätte immer einer gestanden, der wusste, wo der Whiskey ist. Ich deute auf die zwei Regale neben uns, die ausschließlich mit Whiskey bestückt sind. Die Frau schaut nicht mal hin und läuft in die andere Richtung los. Sie sucht jetzt keinen Whiskey mehr. Sie will den Whiskey-Zuständigen von früher.
Früher, vor den Bomben und so weiter, strahlte dieses Kaufhaus in Muschelkalk mit den modernsten Gebäuden der Welt um die Wette: 21 Rolltreppen, 20 Fahrstühle, Whiskey-Berater und ein riesiger Dachgarten für 500 Menschen. Die Zahlen gingen mit der Zeit ein. Zuletzt waren sie so klein, dass man Karstadt zu „Galeria Karstadt Kaufhof“ vermengte. Weil sich das kein Mensch merken kann, sagen Menschen wie ich „Frischewelt“ und „Karstadt am Hermannplatz“, obwohl beides nicht stimmt. Und während im ganzen Land Insolvenzverwalter an die Kadaver der KARTSTADTKAUFHOFGALERIAS Schlösser hängen, wollten die Investoren ausgerechnet hier alles strahlend schrubben und nach dem Modell aus den 20ern umbauen. Das wollten die Berliner aber nicht, bei aller Liebe zur Sensation, nicht noch ein KaDeWe, nicht noch mehr Touristen, bitte einfach ein ganz normales Kaufhaus.
„Die Normalen sind ausverkauft“, sage ich schließlich. Ich knie vor den Tuc-Keksen – heute im Angebot –, weil mich eine ältere Dame gebeten hat, ihr alle Geschmacksrichtungen vorzulesen. „Ich mag kein Paprika. Ich such die ganz Normalen“, sagt sie trotzig. So tief es Knie und Kreuz zulassen beugt sie sich über mich und die gelbe Packung in meiner Hand. „Sour Onion.“ Ich lege die Niete zurück ins Regal. Mit geröteten Gesichtern richten wir uns auf, ihre Steppjacke knistert. „Kann man nichts machen“, seufzt sie. An manchen Tagen ist die Normalität eine seltene Ware.