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Psychogeografie des Notstands

Steffen Greiner

Die Mental Map dieser Stadt dürfte sich für die meisten Berliner gerade neu zeichnen, die gefühlte Geografie der Stadt ist in Bewegung. Auf der ersten psychogeografischen Karte, Guy Debords „Psychogeografischer Stadtführer von Paris“ (1957) setzt der Theoretiker der Situationistischen Bewegung scheinbar willkürlich Schnipsel eines Stadtplans zusammen und verbindet sie mit Pfeilen: Die Stadt, in der Wahrnehmung einer U-Bahn-Reisenden, in Ausschnitten. Punkte, Straßen, die Bedeutung haben, Arbeitsstelle, Kneipe oder Wohnung und ihre direkte Umgebung – Zonen, die passiert werden, ohne Spuren im Bewusstsein zu hinterlassen, vielleicht sogar unterirdische Transitlinien ohne Bezug zur Lebenswelt oben.

Diese Räume werden nun gefüllt. Seit der Verordnung, sich ständig in der eignen Wohnung aufzuhalten, seit triftige Gründe erforderlich sind, den eignen Wohnort zu verlassen, gewinnt der Spaziergang, das Joggen, die Radtour entlastende Funktion. Die Stadt gehend wahrzunehmen, zugleich aber nicht verweilen zu dürfen, erweitert den Radius der inneren Wahrnehmung: Der durchschnittliche Abstand zweier U-Bahnhöfe beträgt weniger als 800 Meter, selten muss man mehr als zehn Minuten gehen, um ins Nahverkehrssystem zu gelangen. Jetzt geraten die Straßen jenseits dessen in den Fokus, jene mittleren Distanzen, nah genug, um sie entspannt abzuspazieren beim Aufenthalt im Freien, weit genug, diesen auch als wirklichen Bruch im Tagesablauf der Isolation wahrzunehmen. Die isolierten Ausschnitte des Stadtplans wachsen zusammen, auf den inneren Landkarten dieser Stadt. Nie gegangene Straßen und versteckte Parks im Kiez nebenan werden zu Hotspots der Selbstverortung.

Die Infrastruktur hingegen verliert ihre Bedeutung: Ohne Bahn-Transit und Shopping bleibt der Alexanderplatz eine einsame Betonfläche und verblasst in den Köpfen. Und wächst anderswo in sie hinein, als etwas ganz anderes, in die Köpfe der Anwohner, als Teil jener Stadtfläche, die nun anders zu entdecken ist. Die Münzstraße, die Rosa-Luxemburg-Straße sind vereinsamt, ohne Boutiquen und ohne Touristen. Es gehen jetzt andere Menschen dort entlang, in anderem Tempo, Sport oder Zielstrebigkeit simulierend eher als flanierend, mit anderer Wahrnehmung ohnehin. Die „Psychogeografie“, liest man im neuen gleichnamigen Band von Anneke Lubkowitz, gerade bei Matthes & Seitz erschienen, habe eine politische Seite. Die einer Aneignung, ganz sicher. Sie ist zugleich Dekonstruktion der Stadt, Demaskierung ihrer verborgenen Funktionen. Raum wird als Konstruktion erlebbar, als Spiel aller Akteure. Im Modus des Umherschweifens, eiligen Durchquerens, soll die Stadt erkundet werden, in Duos oder kleinen Banden: ein Spiel, das in der Idealform des Situationismus derzeit ordnungswidrig wäre.

In „Gesellschaft des Spektakels“ (1967) schreibt Debord davon, „Situationen“ zu schaffen, in denen der kapitalistische Alltag durchbrochen wird. Nichts anderes ist es, was die Berliner Clubkultur und die Elektro-Festivals zwischen Ostsee und Lausitz antreibt: Temporäre autonome Zonen. Wäre es nicht so ernst und wäre dies nicht zugleich eine Übung in (wie auch immer notwendigem) Gehorsam, könnte man davon sprechen, dass wir uns in der Stadt gerade in einer solchen Zone bewegen: Das Virus als „Situation“, als Außerkraftsetzen der Regeln des Raumes und als Moment, in denen neue möglich sind.