Hannes Langbein
Es ist vielleicht eine der anrührendsten Szenen aus Wim Wenders‘ Meisterwerk „Der Himmel über Berlin“: Homer, der alte Poet alias Curt Bois, stolpert über die menschenleere Brache am ehemaligen Potsdamer Platz und sucht den Potsdamer Platz. Nur einen Steinwurf entfernt wohnen die Engel in Hans Scharouns Staatsbibliothek West.
Den „Engel der Geschichte“ hat der Literaturwissenschaftler, Kunstkritiker, Philosoph und Großberliner Flaneur Walter Benjamin nach einem Bild von Paul Klee – „Angelus Novus“ – noch vor den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges beschrieben: Mit weit aufgerissenen Augen schaut er auf die Trümmer des 20. Jahrhunderts. Er versucht die Bruchstücke wieder zusammenzufügen. Aber es gelingt ihm nicht, weil ihm der Sturm des Fortschritts ins Gesicht weht …
Auf dem Kulturforum hat sich der „Sturm des Fortschritts“ gewissermaßen materialisiert: Auf den Ruinen des alten Tiergartenviertels sind die „Tempel der Moderne“, Mies van der Rohes Neue Nationalgalerie, Hans Scharouns Philharmonie und die Staatsbibliothek, später Gemäldegalerie, Kupferstichkabinett, Kunstgewerbemuseum und Kunstbibliothek gewachsen – Solitäre, die sich nie so recht zueinander, geschweige denn in ein stadträumliches Ganzes fügen wollten.
Mittendrin die St. Matthäus-Kirche, die die Zeiten trotz Kriegszerstörung gesehen und überdauert hat. Zu Beginn der 1960er Jahr wurde sie, erbaut 1846 durch Friedrich August Stüler, durch den Architekten Jürgen Emmerich wiederaufgebaut – außen saniert, innen modernisiert. Unsichtbar trägt sie die Erinnerung an eine verschwundene Stadt: Das Geheimrats- und Künstlerviertel mit seinen Salons, Galerien und Vergnügungslokalen, Ursprungsort der Berliner Moderne. Wie ein historischer Fingerzeig reckt sich ihr Turm in den Himmel über Berlin.
Es wird darauf ankommen, die verschwundene Stadt im Blick zu behalten: Nicht nur, um das heutige Kulturforum zu verstehen und mit Blick auf den Neubau des Museums des 20. Jahrhunderts zu entwickeln. Sondern auch, um das „Palimpsest Kulturforum“ wieder in Gang zu bringen: An wenigen Orten Berlins liegen die historischen Schichten unserer Stadt und unseres Landes so dicht übereinander und zugleich so wenig zutage wie an diesem Ort. An wenigen Orten könnte ihre Reibungsenergie so zündend sein wie hier.
Die Bruchstücke des 20. Jahrhunderts lassen sich nicht wieder zusammenfügen. Aber sie lassen sich in ein Reibungsverhältnis bringen und aus ihrer Energie schöpfen. Dafür braucht es Orte, an denen die historischen Tiefenschichten des Forums füreinander transparent werden können: Collagen, Probebohrungen, Kurzschlüsse, tektonische Verschiebungen, die das historische Über- und Nacheinander blitzhaft in neue Gegenwartskonstellationen bringen.
Übrigens: Vor nicht allzu langer Zeit hat die Künstlerin Rebecca Quaytman im Rahmen ihrer Beschäftigung mit Paul Klees „Angelus Novus“ herausgefunden, dass Klees Zeichnung auf einer Kopie von Lucas Cranachs Bildnis des Martin Luther angebracht ist. „Angelus Novus“ als Palimpsest. Reformation und Revolution der Moderne grundieren und überlagern einander. Vielleicht braucht es die Künste, um Konstellationen wie diese freizulegen.
Pfarrer Hannes Langbein, Direktor der Stiftung St. Matthäus