Irina Rastorgueva
Alles, was ich über Berlin in meiner Kindheit wusste, war die abgeflachte Vorstellung vom Sieg über das faschistische Deutschland und als dazugehöriges Symbol die Fahne der UdSSR, die über dem Reichstag steht. Meine Generation kam mit dem letzten Atemzug der Sowjetunion zu Welt, die Ideologie war noch stark und der ganze Stolz war unser Sieg im Großen Vaterländischen Krieg, sein Triumph die Einnahme der deutschen Hauptstadt.
„Mascha, wir haben Berlin erreicht!“, las der Ansager mit rauher Stimme Jahr für Jahr aus den Briefen sowjetischer Soldaten während der Maifeiertage über die Lautsprecher unserer nicht ganz so großen Stadt. All unsere Vorstellungen über dieses „Berlin“ passten zu einem Schwarz-Weiß-Foto mit einem Soldaten und einer Flagge auf dem Reichstag. Darüber hinaus gab es lediglich ein paar finstere Straßen aus sowjetischen Filmen, unangenehme Typen, die uns folterten und mit einem schrecklichen Akzent vortäuschten, Deutsch zu sprechen.
Reduziert auf ein blasses, ideologisch gealtertes Symbol, hatte Berlin seine Charakteristika und urbane Dramaturgie offensichtlich eingebüßt. Dem besiegten Berlin fügte die Chronik des Krieges das Paradigma des absolut Bösen hinzu: Bücherverbrennung, Hitlerreden, Nazimärsche, Fackeln unterm Brandenburger Tor kamen so komplex über uns, dass wir Berlin als nur von Negativitäten überfrachtet verstehen konnten.
Wenn Berlin dann doch als Stadt der Gegenwart in den Nachrichten erschien, war es wenig mehr als theatralische Kulisse. Es lag wohl daran, dass die unverwechselbar europäische Architektur so komplett jenseits unserer Erfahrung lag. Sachalin, wo ich geboren wurde, hat mit Deutschland nur Anton Tschechow gemeinsam: Er hat ein Buch über unser gottverlassnes Inselland geschrieben und ist in Badenweiler bei Berlin gestorben. Selbst Moskau ist näher an Berlin als meine Heimatstadt Juschno. Unsere Insel wurde mit hässlichen Chruschtschowkas vollgebaut, wie der gesamte Ferne Osten zwischen Jakutien und Japan. Vor diesem uniformierten, doch realen Hintergrund sah das Kino-Berlin nun wirklich zu kinematographisch aus.
Meist erinnern wir unser Kindheits-Berlin als das Berlin aus dem Film „17 Momente des Frühlings“ von Tatiana Lianozova. Die TV-Serie über den Kundschafter Stirlitz im Mai 1945 sah das ganze Land, sie wurde zum Kultfilm, der uns alle gleichermaßen an Berlin erinnert, obwohl große Teile davon in Riga, Leningrad und in Moskau gedreht wurden. Immerhin, wir lernten Pankow, das Stirlitz-Haus in der Heinrich-Mann-Straße 16, den Charité-Eingang Schumannstraße 1, die U-Bahn-Station Märkisches Museum, die Rosenstraße in Köpenick und den Spreedamm kennen.
Diese Filmstadt war real. Irgendwie lebten Menschen darin, der Verkehr schien organisiert, die Straßen liefen zusammen und auseinander, nach einigen Gesetzen floss der Fluss vermutlich auch von irgendwo nach irgendwo, aber wir sahen nur das Schema. Wir sahen ja auch nicht, wo Berlin in Riga, Leningrad oder sonstwas überging. Das war „Berlin“ für meine Generation, die in der Perestroika-Zeit gezeugt wurde, die vor allem, die am Rand der Sowjetunion aufwuchsen. Damals, vor Internet und Google Maps. Wir waren die letzten sowjetischen Kinder, wir blätterten im Atlas, sahen Schwarz-Weiß-Filme und glaubten, was die Parolen uns erzählten. Wir fragten nicht, was sich hinter dem Damm verbirgt, auf dem unser Nationalheld Stirlitz steht und in der Uniform des Bösen für das Gute kämpft.