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Das Potential der Brache

Susanne Hauser

Noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg verfügte Berlin über weite Brachflächen mit unkontrolliert wachsenden Pflanzen- und Tierpopulationen. Trotz des Immobilienbooms finden sich bis heute Überreste dieser Flächen, vor allem an verkehrstechnisch wenig erschlossenen Stellen. Diese restlichen Brachen stellen nicht mehr, wie in den 1980er und 90er Jahren, Herausforderungen für die Stadtentwicklung dar, sondern sind ein immer kleinerer Teil eines Patchworks aus verdichteten und durchgrünten urbanen Zonen. Und während die ungenutzten Areale schnell schwinden, werden die spezifischen Qualitäten, die sie aufweisen, immer seltener und damit wertvoller.

Berlins Brachen waren und sind Resultat mehrerer Umstände: von Kriegszerstörungen, langfristig ungeklärten Rechtslagen oder des Freihaltens von Grundstücken für Infrastrukturpläne. Vor allem aber entstanden sie nach der Aufgabe industrieller Produktionen ohne nachfolgende Nutzung. Im Westen der Stadt führten Teilung und Mauerbau zu großem Zuwachs an offengelassenen Flächen. Und nach 1989 gab es einen enormen Schub, als das Wirtschaftssystem im Osten und das Subventionssystem im Westen der Stadt an ihre Enden kamen. Weite offene Flächen in beiden Teilen der Stadt verdankten sich auch der Aufgabe von Bahngeländen, die die Stadt wie Bänder durchzogen und ganze Stadtteile und Kieze deutlich getrennt hatten. Diese Flächen sind immer noch im Stadtbild erkennbar. Der Abriss der Mauer, die Öffnung des bis zu 50 Meter breiten Mauerstreifens fügten noch einmal erhebliche Gebiete hinzu, die längst noch nicht alle bebaut sind.

Brachen haben Potentiale. Diese wurden, und werden auch manchmal noch, meist zuerst aus der Nachbarschaft erkundet und genutzt, doch ebenso von Künstlern, aufstrebenden Projekten und von marginalisierten Gruppen mit Platzbedarf. Sie alle haben die Optionen von Brachen in ihrem unklaren Zustand zwischen abgeschlossenem Gebrauch und Erwartung neuer Nutzung gesehen, die Zwischenphase als chancenreiche Situation erkannt und dazu beigetragen, Potentiale in Berlin zu entwickeln.

Pionierhaft war auch das für spätere Gestaltungen folgenreiche wissenschaftliche Interesse, das sich seit den 70er Jahren auf einige Westberliner Brachen richtete. Stadtökologen begannen dort Pflanzen und Tiere zu untersuchen und dehnten ihre Forschungen schon bald auch auf Ostberlin aus. Aus der vom West-Senat unterstützten Biotopklassifizierung und -kartierung entwickelten sich 1984 die Grundlagen für das Artenschutzprogramm Berlins, das nach der Wende für die ganze Stadt Bedeutung erlangte und eine neue Ästhetik urbaner Natur unterstützte.

Die Ästhetisierung, Erhaltung und behutsame Zähmung der so entdeckten und beschriebenen urbanen Natur wurde in mehrere Projekte übersetzt, die oft auf alten Bahnarealen liegen. Beispiele sind der Park am Nordbahnhof (*2002-2010, Fugmann Janotta Partner), der Park am Gleisdreieck (*2008-2013, Atelier Loidl), in dem der Aufwuchs im alten Bahngelände deutlicher überformt wurde, und der NaturPark Südgelände (*1995-1999, ausgebaut unter Regie der Grün Berlin GmbH). In diesen Parks haben wertvolle Qualitäten des öffentlich nutzbaren Freiraums, den Brachflächen bieten können, und auch die urbane „Wildnis“ Refugien gefunden, die Berlin nun auf neue Weise hervorheben.

Unsere Autorin ist Professorin für Kunst- und Kulturgeschichte an der Fakultät Gestaltung der UdK Berlin