Zur Geburt Groß-Berlins aus dem Geist des Waldes
Hanns Zischler
Das südliche Ende der von Max Taut 1918 entworfenen Siedlung Eichkamp wird einem kurzen Weg begrenzt. Der Dauerwaldweg beginnt westlich des S-Bahnhofs Grunewald und verliert sich nach ein paar hundert Metern in einem Waldweg. Wegbeschreibung und Name legen nahe, dass hier etwas scheinbar Selbstverständliches betont wird. Ein Gedankenstrich im Text der Stadt.
Was könnte mit einem „Dauer“-Wald gemeint sein? Es gibt Wörter, die einem so leicht über die Lippen gehen, dass ihr seltsamer Aspekt zunächst nicht auffällt. Wenn etwas von Dauer ist, dann gewiss der Wald, die Gewässer, also naturhaft-landschaftliche Gegebenheiten, die zwar von Menschenhand bearbeitet und geformt werden, aber deren Dauerhaftigkeit einigermaßen garantiert zu sein scheint.
Die Berlin betreffenden Prognosen und damit verbundene Erwartungen waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts hoch gesteckt. Sowohl im „Wettbewerb um Groß-Berlin“ von 1910 als auch im „Generalfreiflächenplan“ von 1929 wurde mit einer künftigen Einwohnerzahl von ca. 10 Millionen gerechnet. Verbunden mit diesem quasi unaufhaltsamen Wachstum war die „Grünfrage“, das heißt, welche Erholungs-Ressourcen dieses Gebilde von fast 1000 Quadratkilometern künftig seinen Bewohnern würde bieten können.
Nach herkömmlicher Sicht gliedert sich die Geografie einer Stadt in Straßenland, Plätze und Bauland, das den Wäldern und Wiesen seit der frühen Neuzeit nach und nach und seit der Industrialisierung rabiat abgetrotzt wurde – immer auf der Grundlage einer gelingenden hydraulischen Entwicklung, denn ohne Mühlen und Gewässerregulierung kann es keine eine große Stadt geben.
Für Berlin kommt noch eine Besonderheit hinzu. Die Stadt war in ihren Anfängen ein derart wasserreicher und fischreicher Ort, dass es Mühe kostete, neben den gut schiffbaren Wasserwegen eine halbwegs befestigte Stadt mit gut begehbaren Straßen, den „Dämmen“, zu bauen. Waren die Dämme einmal errichtet, konnte die Stadt sich ausdehnen. Das ist bekannt und beschrieben. Wenigerim Gedächtnis geblieben ist der tatsächlich gelungene Versuch, dem Wald- und Wiesenfraß, der mit der irregulär zentrifugalen Stadtwerdung einherging, dauerhaft Einhalt zu gebieten – mithilfe des Dauerwaldvertrags.
Die Rede ist hier nicht von der Durchgrünung der Stadt durch Parks und Schrebergärten, Friedhöfe und Sportanlagen und Spielplätze, die die Innenausstattung der bebauten Räume sind. Der „Dauerwald“ hingegen ist jener, die größeren Siedlungen durchdringende und umschließende städtische Wald- und Wiesengürtel; er musste in einem zähen Kampf der Stadt und ihrer Bürger dem Staat Preußen abgerungen, ja abgekauft werden, um 1915 in einem ungewöhnlichen und für die Existenz Berlins wegweisenden Vertragswerk verstetigt zu werden.
Die seit 1875 ins Umland drängende Stadt benötigte auf ihrem Expansionskurs Waldgebiete als Bauerwartungsland, die sie nicht besaß. Gleichzeitig mit dieser raschen Ausbreitung formierte sich eine von zahlreichen Vereinen und Einzelpersonen und schließlich vom Magistrat getragene Bewegung, mit dem Ziel „der wachsenden Bevölkerung der Reichshauptstadt für die ferne Zukunft die Gelegenheit der Erholung und Erfrischung im Freien und Walde zu sichern.“
Der preußische Staat, vertreten durch den Forstfiskus, war ausschließlich daran interessiert, die von der Stadt begehrten Waldgebiete möglichst günstig für Terraingesellschaften zu parzellieren. Angela von Lürthe, die 2015 für den BUND eine minutiöse Chronologie der Geschichte des Dauerwaldvertrags erstellt hat, zitiert Alfred Kerr, der die niedrig besteuerte Villenkolonie Grunewald als „Luxusstadt für die oberen Klassen“ bezeichnete. In über 200 Villen lebten dort „schwere Kapitalisten, gepflegte Bauern im Millionärskaff.“ Denn auf der einen Seite verfolgte der immer noch feudal-agrarisch geprägte preußische Fiskus starrsinnig seine allein Partikularinteressen untergeordnete Politik durch Vergabe an Terraingesellschaften, auf der anderen Seite standen eine immer offensiver werdende liberale Öffentlichkeit und ein hellwacher, gegen den preußischen Landtag opponierender Magistrat, der dieser luxurierenden Entwicklung durch eine großräumlich gedachte, kommunale Planung entgegenwirkte. Die Waldvernichtungspolitik würde absehbar zu einer kaum mehr zu behebenden Zerstückelung nicht nur des Waldes, sondern des wachsenden Stadtkörpers selbst führen.
Der öffentliche Protest gegen diesen Ausverkauf – „Waldschlächterei“ und „Waldverwüstung“ waren die Schlagworte – führte schließlich zu dem 1909 von einer starken Öffentlichkeit getragenen„2. Berliner Waldschutztag“und 1911 zur Gründung des „Zweckverbandes Berlin“. Zu diesem gehörten Charlottenburg, Wilmersdorf, Rixdorf, Schöneberg, Lichtenberg, Spandau und die Landkreise Teltow und Niederbarnim; daraus resultierte schließlich ein Zweckverbandsgesetz, das die Kommune verpflichtete Wälder, Wiesen, Seen, Parks etc. zu erwerben und zu erhalten. Berlin erwarb 1914 vom Forstfiskus 10.000 Hektar für 50 Millionen Mark, entsprechend 50 Pfenning pro Quadratmeter. Wegen des Kriegsausbruchs konnte der aus den jahrzehntelangen Auseinandersetzungen resultierende Dauerwaldvertrag erst im März 1915 Gesetz werden.
Die Bewirtschaftung folgte durchaus fortschrittlichen Prinzipien, Wald sollte Wald bleiben. Zahlreiche Siedlungen wie Eichkamp sind in diesem Licht Denkmäler des Dauerwaldvertrags, der der Zersiedelung Einhalt bieten konnte. Das 1920 geschaffene, von 3,8 Millionen Menschen bewohnte Groß-Berlin umfasste eine Fläche von 88.000 Hektar, 21.000 davon Wald. Der ausschließlich monetäre Utilitarismus konnte mit diesem Vertrag zugunsten einer vom Magistrat mitgetragenen kommunitarischen Bürgerbewegung im Sinn eines Gemeinwohls, von dem wir heute noch zehren, ausgehebelt werden.
Dem Artikel liegt eine Kanzelrede des Autors zugrunde, mit der am 20. September die Großstädtische Installation „Ein Paradies von einer Stadt!“ in der Kirche Sankt Matthäus eröffnet wurde.