Steffen Greiner
Berlin ist ein mittelalter weißer Dude mit einem mächtigen Bart, Achtziger-Brille und Neunziger-Kappe vor einem Kebabladen. Der Mann ist grade quasi das Profilbild von Berlin, das Bild, das den Hashtag #berlin auf Instagram symbolisiert, an diesem Tag, in dieser Stunde im November. Gleich wird er ersetzt werden, durch das Bild eines Baums im Herbstlicht, dann durch eine Frau mit asiatischen Wurzeln in Achtziger-Fotoästhetik. Über 45 Millionen Fotos tragen die Raute mit dem Schlagwort in der Bildunterschrift. Sie alle kommen zusammen, sucht man auf „Insta“ nach „#berlin“.
Und minütlich kommen mehr. Die Bilder erlauben ein Flanieren durch die Stadt, ohne das Bett zu verlassen: Quarantäne-Flanage. Aber mehr noch: Flanieren durch die Assoziationen, die Menschen mit der Stadt verbinden, und durch Egos, die sich an Berlin ketten, weil es Algorithmen-Analysen empfehlen, weil eine Kategorie, die über 45 Millionen Beiträge fasst, Wahrnehmung verspricht, für diejenigen, die den Hashtag unter das eigene Bild setzen. Also: Refreshen, gelangweilt bleiben im Strom der Bilder, tausende ignorieren, an einzelnen hängenbleiben, Fokus setzen. Kulturlockdown und Kälte: Stadtleben im kollektiven Virtuellen.
„Do you like freestyle art“, fragt der Stettiner Tattoo-Künstler, #szczecin #berlin #freestyle, unter dem Foto seines neusten Werks: Ein aufgerissenes Maul, das sich im Nacken eines Mannes öffnet, schwarz, grün, rot. Ein Foto der Neuen Synagoge, #kristallnacht. Ein Foto vom Grunewaldsee, #kopffreikriegen. Ein Foto aus Playa del Carmen, Mexiko, bleiche Füße baumeln über den Balkonrand und über grüne Palmenblätter im Hinterhof, #polska #foto #berlin.
Kurz darauf im Blättervideo durch die Graphic Novel „Berlin“ von Jason Lutes, die in vorliegender spanischer Edition „Berlín“ heißt und vom Niedergang der Weimarer Republik erzählt, sie endet im Frühjahr 1933. Parallel geht online: Üppiges Fleisch – „when you are feeling the #winterblues, nothing better than a nice #juicy #burger to pick you up“, empfiehlt sich ein Kreuzberger Burgerladen. Dann ein Klassiker: „The Kiss“, Berliner Mauer, auch die im verschmiert grauen Winterblues: #berlinmylove #ddr #coldwar. Nochmal Mauer, am Potsdamer Platz und besprüht mit belarussischem Weiß-Rot, ein Ein-Frauen-Protest: „Belarus, your wall will also fall!!“, #belarus2020 #freebelarus. Dazwischen stemmt einer gewaltige Gewichte, #mcfit.
Später: Ein Eichelhäher in Tempelhof, #vogel #vögel #birds. Ein Set von DJ Fuckoff, #technobunker. Eine Frau auf den Stufen des Neuen Museums, kommentarlos: #sunshine. Ein Mann, nackt bis auf die prächtig gefüllte Schiesser-Unterhose, eine Jeansjacke leger über die Schulter gelegt, #instaboysgay #lgbtq #gayvibes. „Una Francesa – que se cree Argentina – viviendo en Alemania“, #jewsmemorial – und wie die Stelen glänzen im Abendsonnenlicht.
Wer bei Instagram durch die Stadt flaniert, lernt wenig über Berlin, aber viel über die Anziehung, sich dort zu verorten. Es scheint, als würden die Narrative von Instagram und von Berlin tatsächlich matchen, teilten sich Sequenzen ihrer DNA: Im rhizomatischen Wuchern, in der Ungreifbarkeit, der Zentrumslosigkeit, in einer Erzählung von Leben und leben lassen. Dass das #Berlin von Instagram ein Ort der Vielfalt ist, aber unsäglich banal, liegt nicht nur an den Beliebigkeiten der Sozialen Medien, sondern auch an der Textur dieser wundervollen, unsäglich banalen Stadt.