INDEX
Das Interesse am Panorama ist, die wahre Stadt zu sehen – die Stadt im Hause. Was im fensterlosen Hause steht, ist das Wahre. Übrigens ist auch die Passage ein fensterloses Haus. Die Fenster, die auf sie herabschauen sind wie Logen, aus denen man in sie hineinsehen, nicht aber aus ihr heraussehen kann. (Das Wahre hat keine Fenster; das Wahre sieht nirgends zum Universum heraus.)
Walter Benjamin
Passagen-Werk, Aufzeichnungen und Materialien, ca. 1935. Gesammelte Schriften, V • 2, Frankfurt am Main 1982
Abrißbirne
Werkstück, mit dem die Leerstellen in die urbane Wirklichkeit geschlagen werden. Die A. ist verkörperte zielgerichtete Gewalt, setzt Zerstörung gleich mit Schöpfung. Die A., in Gestalt eines Roheisenklumpens, ist gegenständlich umgesetzte Ruhe, ganz ausgefüllte Leere selbst, sofern sie nicht in Schwung versetzt. Unfähig zu selbständiger Bewegung ist sie stillgelegte Geste der Zerstörung; sie verkörpert den Wandel in seiner unspektakulären plumpesten Form, die Geste des Durchbruchs, begrenzten Weiterwollens wie des Rückschlags, der Arbeit, der Pause, der Störung wie der Ordnung, des Widerstands gegen die Wirklichkeit, und zugleich verkörpert sie die Wirklichkeit selbst.
Thomas Martin
Leerstelle (15) , taz, 2002
«Voici un homme charge de ramasser les debris d’une journee de la capitale. Tout ce que la grande cite a rejete, tout ce qu’elle aperdu, tout ce qu’elle a dedaigne, tout ce qu’elle abrise, il le catalogue, il le collectionne. Il compulse les archives de la debauche, le capharnaüm des rebuts. Il fait un triage, un choix intelligent; il ramasse, comme un avare un tresor, les ordures qui, remachees par la divinite de l’Industrie, deviendront des objets d’utilite ou de jouissance.»
Charles Baudelaire
Du vin et du haschisch. Les paradis artificiels, Paris 1860
Am 7. Dezember begann der Zentrale Runde Tisch in Berlin als oberste Instanz der Übergangszeit, ihm folgten hunderte kommunale und fachspezifische Runde Tische, an denen reale Verwaltungsentscheidungen getroffen wurden, noch bis weit in das Jahr 1990 hinein. Es gab keine Führung, es war Selbstorganisation.
Klaus Wolfram
Was war und zu welchem Ende kam die politische Energie der Ostdeutschen?, Rede auf der Mitgliederversammlung Akademie der Künste Berlin, 8.11. 2019
Codierung
Könnte es also sein, dass die symbolische Ausstaffierung der Hauptstadt heute als Kompensation für die verlorenen Freiheiten und Bedeutungen fungiert, als anregende Erinnerung daran, dass es früher einmal um etwas ging, ohne davon allzu sehr belästigt zu werden? Das Codewort für diese Erinnerung hieße dann „Kultur“.
Mark Siemons
Stadt der leeren Zeichen, FAZ 2017
Eigentumswohnung
Das Berlin-Problem. Die Lebensform des Einzelnen ist eine massenhafte. Also lächerliche. In jedem Hinterhaus zwei Steppenwölfe. Drei Zarathustras. Vier Männer und Frauen ohne Eigenschaften. Auch das Kellerloch ist voll. Alles, was erfahren wird, wird von Vielen erfahren, von Vielen beschrieben, fotografiert, gefilmt, in Journalismus, Kunst, Wissenschaft und Philosophie transformiert. Jede Existenz erscheint als serielle Existenz, ist serielle Existenz.
Sven Hillenkamp
Kampf den Denkzeichen, 2016
Wäre ich als Erwachsener plötzlich gezwungen, etwas zu essen, das ich nicht mag, wäre es mir verboten, in den Laden zu gehen und zu kaufen, was ich will, wäre ich gezwungen, Dinge, die ich brauche, z.B. Telefon oder Computer, mit beliebigen Menschen zu teilen, dann wäre ich höchstwahrscheinlich sehr wütend und verärgert. Und wenn ich dafür auch noch bestraft würde, wäre ich zutiefst deprimiert. Ich weiß nicht, wie Kinder mit all dem fertig werden. Ich würde auf keinen Fall wieder ein Kind sein wollen.
Landesbank
Berlin ist anders: Es ist die einzige europäische Hauptstadt, deren Verschwinden das Bruttoinlandsprodukt ihres Landes steigern würde.
Harald Martenstein
Zeit Magazin, 2017
Marx, Engels, Platz
Time, space,
neither life nor death is the answer.
And of man seeking good,
doing evil.
In meiner Heimat
where the dead walked
and the living were made of cardboard.
Ezra Pound
Canto CXV (Fragment), 1969
Also ist maßgebend der Modellcharakter der Produktion, der andere Produzenten erstens zur Produktion anzuleiten, zweitens einen verbesserten Apparat ihnen zur Verfügung zu stellen vermag. Und zwar ist dieser Apparat um so besser, je mehr er Konsumenten der Produktion zuführt, kurz aus Lesern oder aus Zuschauern Mitwirkende zu machen imstande ist. Wir besitzen bereits ein derartiges Modell, von dem ich hier aber nur andeutend sprechen kann. Es ist das epische Theater von Brecht.
Walter Benjamin
Der Autor als Produzent, 1934. Gesammelte Schriften, II • 2, Frankfurt am Main 1977
In the situation of postmodernist society, when reality becomes a model, the opposition between reality and signs is erased, everything becomes a simulacrum – a copy depicting something that either did not have the original in reality at all, or eventually lost it.
Mythos
There is a measure of unaccountable time you can spend in Berlin and write it off as extended-holiday frippery. But there comes a Rubiconic moment, after which you’ll find it hard to leave without having something to say for yourself. You’ve probably gone to Berlin in part because of its reputation for world-historical fun.
Gideon Lewis-Kraus
City of Rumor: The Compulsion to Write About Berlin, 2013
Palimpsest
Brodsky sagte, daß er in Berlin ständig das Gefühl habe, er gehe über Leichen, das Gefühl, darunter sei irgendetwas, was nicht begraben ist. Berlin ist unbegraben, obwohl ständig darüber gebaut wird. Dieses hektische Bauen gehört natürlich auch zu dem großen Verdrängungsprozeß. Interessant wird das alles erst in 20 oder 30 Jahren, wenn entweder alles planiert ist oder aber wieder aufbricht.
„Verwaltungsakte produzieren keine Erfahrungen“
Heiner Müller im Gespräch mit Hendrik Werner, 7. Mai 1995 in Berlin
Passage
Time: the passage of time, the endlessness of time, the patter of repetition, of daily actions, the patterns of traffic (going to work, shopping, deliveries, children play in the street, coming home from work, the closing stores, etc.). The feeling of the day as a unit of time–awareness of time.
Mark W. Turner
Backward Glances: Cruising Queer Streets in London and New York, 2003
Pop up
Child memories. I remember rag pickers coming to the door, trying to sell rag. Or riding with my mother in a trolley car. We passed women strikers being beaten up by the security forces and so on. Images, then it goes on from there. My students would all mention 9/11 … That just shows how insular the West is. If you ask in South America about 9/11, one answer you’re likely to get is: Which 9/11? It happens that there was another 9/11 which in fact was worse than this one.
Noam Chomsky
On behalf of Crisis and Critique, 2005
Die Lektüre Berlins, seiner Gegenwart, ist unter den Straßen ergiebiger als auf ihnen. Ohne Fahrstuhl in die Geschichte wirst du in der Gegenwart nichts finden, sie bleibt unbehaust. Der Führer durch die Unterwelt sollte ein Toter sein, oder ein untotes Kind, wie der Tiefenforscher Walter Benjamin empfiehlt. Der unverstellte Blick des Kindes sieht, fast wie das Auge Gottes, alles, noch die Ameise unter dem Stein und die Leben vor uns in den Straßen, die nicht mehr sind.
Utopie
Lebenswichtiges Interesse, eine bestimmte Stelle der Entwicklung als Scheideweg zu erkennen. An einem solchen steht zur Zeit das neue geschichtliche Denken, das durch höhere Konkretheit, Rettung der Verfallszeiten, Revision der Periodisierung überhaupt und im Einzelnen charakterisiert ist und dessen Auswertung in reaktionärem oder revolutionäre[m] Sinne sich jetzt entscheidet.
Walter Benjamin
Passagen-Werk, Aufzeichnungen und Materialien, ca. 1935.
Gesammelte Schriften, V • 2, Frankfurt am Main 1982
Wolkenkratzer
Zum Bild einer künftigen Modellstadt Berlin gehören die Hochhäuser. Und zwar nicht die höheren Häuser, die zurzeit geplant und manchmal auch gebaut werden, sondern richtige Hochhäuser, die spannende Proportionen von fünf, sechs, sieben Breiten (und nicht zwei bis drei wie jetzt) in der Höhe aufweisen. Dann aber wäre die spannende Höhe bei 200 m und mehr zu sehen.
Sergei Tchoban
Höher bauen für Berlin, Berliner Zeitung, 2020
Zonenrand
Die Schaffnerin in der Regionalbahn konnte mir nicht erklären, warum eine Fahrkarte von Berlin-Staaken nach Stendal 6,20 Euro kostet, von Stendal nach Berlin-Staaken aber 8,20 Euro. Ist das der Mitleidsbonus, wenn man in die Provinz muss, oder erhebt Berlin, um seine Schulden zu tilgen, eine Einfuhrsteuer von zwei Euro?
Annett Gröschner
Freitag, 2003