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Tag 12

Poetik der Natur durchs Prisma einer Stadtlandschaft gesehen:

Straßenbahnschienen, die unter den Fenstern gespannt sind. Dazwischen liegt eine Insel schmalen Lands; morgens, abends, manchmal auch am Nachmittag laufen Hunde und Besitzerchen an ihr entlang. Aus irgendeinem Grund hat mich gerade diese kleine Insel immer schrecklich traurig gemacht. Im endlosen monotonen Winter vor einem grauen Himmel und vor einer nicht weniger grauen Stadtlandschaft sieht dieses Stück Natur, das auf beiden Seiten von Metallgeländern umklammert ist, vollkommen hoffnungslos aus. Seine Unvollständigkeit – ob es sich um einen Platz, einen Boulevard oder bloß um eine breitere Trennlinie handel – wird durch die wehrlose Nacktheit, die der Winter ihr verordnet, noch unterstrichen.

 

Der gesamte Streifen war einmal mit Pflastersteinen gepflastert, doch mit der Zeit wurde er von der Natur einfach aufgefressen. Die Straßenbahnlinien begannen hinter einem Graswall zu verschwimmen. Das Gras begann sich aus der Erde, die sich durch Asphalt und Pflasterstein nach oben durchgebissen hatte, durch den Stahl zu fressen.

 

Es war dort einmal eine Pferdebahn – die Linie 62 – die diese Straße vom Alexanderplatz bis zum Weißensee fuhr, immer die Greifswalder Straße entlang. Ist in dieser Zeit, vor mehr als 100 Jahren, die Spur für sie gepflastert worden? Tauchte sie auf, als die „Elektrische“ die Pferdebahn ersetzte, um die Straße mit einem grünen Fußgängerweg zwischen den gegenläufigen Gleisen zu versehen? Gab es Kühe oder Schweine, die von sonstwoher zum nahgelegenen Viehhof an der Landsberger zu Fuß gingen? Es ist nicht bekannt, ob die Stammgäste der Bierstuben, von denen es in der Gegend viele gab und die man später Kneipen nannte, hier langgelaufen sind. Vielleicht ging Frau Käthe Kollwitz auf diesem schmalen Pfad zusammen mit Herrn Max Liebermann spazieren oder kauften bei der Apothekerfamilie, die in der Nummer 10, gerade da, wo der gräserne Streifen beginnt, ihr Geschäft im Jahr 1892 eröffnet hatten … seit letztem Jahr ist dort jetzt keine Siegfried-Apotheke mehr. wir haben dort sehr selten was gekauft, und wenn, dann selten etwas anders als Badesalz oder Aspirin, aber jetzt fehlt sie uns, die Apotheke, die mit oder ohne Geschichte dieses entscheidende Moment von Aura über die triste Straße goß wie einen Strahl Sonne und einen Schuß Retterspitz (Äußerlich) dazu. Jetzt, nachdem ich hier ein Jahr lang lebe, und meine Herkunft etwas weniger vermisse, ist dieser kleine Streifen Land für mich zu einem Symbol (ich könnte gemeinerweise auch sagen, verlängertem Fußabtreter) des Hauses geworden, etwas sehr Heimisches und Vertrautes, wenn auch immer noch ein bißchen deprimierend. Wie es sich, wenigstens im Berliner Winter, gehört.

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