Wie lebt sie so? Was hält sie von Hygiene und wie hält sie es mit ihr? Waschen? Weiß man nicht. WC? Nicht vorhanden. Toilette? Macht sie nicht. Klo? Hat sie nicht. Nur das Gitter vor dem Laden unter ihr. Sie faltet die Klappmatratze auf und hockt sich. Wer vorbekommt, erschrickt, macht einen größeren Bogen, scheint Mühe zu haben, sich nicht umzudrehen. Vor dem letzten Regen kamen öfters die Beschwerden, sagt der Suppenküchenmann, der Russe ist, zwei Häuser weiter, weil es stinkt. Die Polizei geholt hat noch niemand.
Was ist das für ein Leben, ist das eins? Sie lacht. Sitzt. Steht auf, schwärmt, wie es wärmer wird, öfter aus. Man trifft sie mittlerweile überall. Auch im Traum erscheint sie uns, sieht als Tagundnachtauge in Fenster und Stirnen und ist Zeuge – wovon? Und warum? Woher der Gedanke, daß sie nicht gerade Rache sucht, aber Buße einfordert – wofür? Ist ihre vollkommene Präsenz, ihre Nie-Abwesenheit, Zugehörigkeit zu dem, was wir Bürgersteig nennen, das, was sie zur mythischen Figur, zur zerlumpten Erinnye einer fragwürdigen Großstadtsaga erhebt? Man kann das denken, sieht man sie früh am Morgen eingesunken sitzend schlafend: fast schon Stein geworden, die Frau, bald sinkt sie in die Pflasterplatte ein, bald gehen wir drüber, bald ist sie Trottoir und der Sand dann darunter. Sie ist der Bürgersteig, die Pflasterplatte, ist die Stadt. Den Leute auf die Füße schauen, nicht aufs Maul, sagt Cioran; das macht sie. Aber jeden Tag wacht sie auf und zieht jeden Tag weitere Kreise. Nicht nur in die Ferne: der Hauseingang als Dachbodenkellerkombination markiert das aktuelle innere Revier und die anhaltende friedliche Koexistenz mit der Nachbarschaft.
Mütter halten ihre Kinder fest, wenn sie ihr zu nahe kommen. Andre stehen, die Kinder an der Hand, lange bei ihr und reden. Manchmal bilden sich Trauben um die Frau, dann scheint sie den anderen zuzusehen, die sie besprechen. Vielleicht sieht sie sich auch selber zu, wer kann das wissen. Von fern betrachtet scheint die Gestik derer um sie immer dasselbe zu besagen, zu fragen: Warum? Antworten sind nicht überliefert.
Vom Temperament scheint sie eine der ausgeglichensten aller Mütter zu sein. Die Stadt, deren Laufklientel beständig zunimmt, deren unberechenbarer, gestörter, verwirrter und hilfloser Teil beständig zunimmt, hat in ihr ein Gegenteil gefunden. Jung könnte sie sein, alt aber auch, zeitlos, wie zukünftige Legenden sind. Wenn sie auch keine Mutter leiblicher Kinder sein mag (auch das weiß von uns anderen niemand), ist sie die Mutter der Straße. Keine Heilige, aber die Aura. Und immer mehr von denen, die vorbeigehn, täuschen die Berührung an, vielleicht, wenn man ihr nicht helfen kann, hilft sie. Vielleicht bringt sie Glück, wenn nicht, vielleicht – wenigstens das – Resistenz.
Gestern ist sie umgezogen, sitzt umgeben jetzt von all dem, das wir gewohnt sind Krempel zu nennen, an der Kreuzung vor dem Friedhofseingang. Nachts knallt das Flutlicht auf sie, derzeit sind die Nächte kurz und warm. Wann wird sie weiterziehen, wohin? Bleibt sie sitzen hier, wo die Abgase seit kurzem wieder dick sind und die Fahrräder am Morgen im Stau stehen? Wo wird sie nächsten Herbst sitzen, wieder 200 Meter weiter westlich? Die Greifswalder hat sie durch inzwischen.