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Kantstraße, Fragmente (1)

Grashina Gabelmann, Fabian Saul

Ich komme an einer Bäckerei vorbei / Sie ist von einem Gerüst bedeckt / Eine alte Dame hat sich gerade einen Kaffee und ein Brötchen geholt / Kein Tisch zum Setzen, sie nimmt das Gerüst / Darauf stellt sie ihren Kaffee, die Ellbogen gestützt blickt sie auf die Straße / Und so steht sie und isst / Die Bauarbeiten müssen nun um sie herum passieren / Ich überquere die Straße / Eine Plakette: 

Im Souterrain dieses Theaterhauses gründete 1921

die Schauspielerin und Sängerin

TRUDE HESTERBERG

2.5.1892 – 31.8.1967

die

»WILDE BÜHNE«

und legte damit den Grundstein für das moderne

deutsche literarisch-politische Kabarett

Der »Blaue Engel« feiert 1930 im Gloria-Palast um die Ecke Premiere und Marlene Dietrich wird über Nacht zum Weltstar und verlässt Deutschland endgültig. Nur Ende des Jahres kehrt sie noch einmal zurück – und sitzt am 7. Januar 1931 in der Kantstraße 10 im Keller des Theaters des Westens bei der Eröffnung des Tingel-Tangel-Theaters. Das Kabarett wird von Friedrich Hollaender betrieben, der auch die Hits aus »Der Blaue Engel« geschrieben hat, und so singt Marlene mit ihm gemeinsam am Klavier.

Im Publikum sitzt auch Trude Hesterberg. Einst war es Friedrich Hollaenders Onkel Gustav, der ihr als Direktor des Sternschen Konservatoriums gegen den Willen ihres Vaters die Gesangsausbildung ermöglichte, da sie eng mit seiner Tochter Susanne Hollaender befreundet war. Sie ist eine von vielen Schauspielerinnen, die in »Der Blaue Engel« hätten spielen sollen – doch die Wahl war irgendwann auf Marlene Dietrich gefallen.

Für Trude Hesterberg ist der Abend in der Kantstraße 10 eine Begegnung mit der Vergangenheit. In denselben Räumen gründete sie zehn Jahre zuvor die Wilde Bühne, eines der ersten politisch-literarischen Kabaretts. Und das erste überhaupt, das von einer Frau betrieben wurde.

Gleich zu Beginn hat sie einige der viel versprechendsten Künstler*innen ihrer Zeit engagieren können. Im Januar 1922 einen jungen Dichter namens Bertolt Brecht, der seine »Legende vom toten Soldaten« vorträgt und damit einen Skandal auslöst. .

Als das Kabarett 1921 eröffnet, tritt auch Kurt Gerron auf. Er wird später bekannt werden in »Der Blaue Engel« und »Die drei von der Tankstelle«. Zur selben Zeit kommt Margo Lion aus Paris nach Berlin, um eine russische Ballettschule zu besuchen. Dort lernt sie Marcellus Schiffer kennen. Er schreibt »Die Linie der Mode« und sie gibt im November 1923 auf der Kantstraße damit ihr Debüt. Den Look Margo Lions – schwarzer Anzug, Hut, Fliege und Zigarette – wird Marlene Dietrich später weltberühmt machen. 

1933 flieht Friedrich Hollaender nach Paris und von dort aus später nach Hollywood. 

Trude Hesterberg tritt in die NSDAP ein und überlebt den Krieg unbeschadet. In der »Musenschaukel« macht sie von nun an nur noch Kabarett, das nichts »Fremdes« beinhaltet. 

Ihre Freundin Susanne Hollaender, deren Familie Trude ihren Erfolg verdankt, wird am 29. Januar 1943 nach Auschwitz deportiert und dort kurz darauf ermordet. 

Kurt Gerron flieht nach Paris, dann nach Amsterdam, wird dann verhaftet und nach Theresienstadt gebracht, wo er den Propagandafilm »Theresienstadt« für die Nazis drehen muss, bevor auch er ermordet wird. 

Marcellus Schiffer nimmt sich das Leben. Margo Lion flieht darauf nach Paris und wird dort vor allem für ihre Brecht-Interpretationen geschätzt.

Bertolt Brecht und Walter Benjamin gehen auch nach Paris und als Brecht die Stadt Richtung Dänemark wieder verlässt, schreibt Benjamin im Dezember 1933 an einen Freund, dass Paris nach Brechts Abreise eine tote Stadt für ihn sei.

Zur Mittagszeit sind die Bänke am Savignyplatz immer voll / Und jemand, der schon lange nicht mehr da ist, hat Notizen auf eine Ziegelsäule gelegt, damit andere sie lesen können:

»Menschen schützen, nicht Grenzen #leavenoonebehind«

»Zuversicht«

»#blacklivesmatter«

Die Autoren Grashina Gabelmann, Fabian Saul

www.flaneur-magazine.com