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„Alles muss man selber machen“ – Berliner Eigenständigkeit als Ressource

Andrej Holm

Eltern nach den Homeschooling-Monaten kennen es vielleicht. Jahrelang kann die Unzufriedenheit mit dem Schulsystem nur mühsam unterdrückt werden, doch jetzt mit der eigenen Verantwortung für die Vermittlung des Unterrichtsstoffs ist es auch nicht richtig. Die Freiheit, selbst die Dinge in die Hand zu nehmen, und die Erwartung, dass der Staat für die wesentlichen Grundbedürfnisse da ist und die auch noch gut organisiert, stehen nicht nur in Corona-Krisen-Zeiten im Kontrast zueinander. Doch gerade die Berliner Stadtentwicklungsgeschichte ist reich an Beispielen, in denen Selbstorganisation, Eigeninitiative und staatliches Handeln eine innovative Koexistenz eingingen und sich ergänzten.

So stand die soziale Wohnungspolitik in den 1920er Jahren vor dem Problem, dass sich die private Bauwirtschaft weigerte, am gemeinnützigen Wohnungsbau mitzuwirken und dass die städtischen und gemeinnützigen Bauvorhaben an überhöhten Baupreisen zu scheitern drohten. Zusammen mit den Gewerkschaften wurden deshalb vor hundert Jahren die ersten sozialen Bauhütten gegründet, in denen sich Handwerker und Bauarbeiter zusammenschlossen, um die Aufträge der gemeinnützigen Wohnungsunternehmen zu übernehmen. Hunderte von solchen selbstorganisierten Bauunternehmen schlossen sich 1920 im Verband der Sozialen Baubetriebe zusammen. Geplant auf kommunalen Grundstücken, gefördert mit öffentlichen Mittel aus der Hauszinssteuer und errichtet durch die sozialen Baubetriebe entstanden fast 100.000 kommunale und gemeinnützige Wohnungen, die sich als Siedlungen des UNESCO-Weltkulturerbes auch heute noch bestaunen lassen.

Ab den 1970er Jahren wurde vor allem in Ostberlin viel neu gebaut, wie in Marzahn, Hellersdorf und Hohenschönhausen bis heute zu sehen ist. Finanziert aus dem Staatshaushalt, errichtet von den Wohnungsbaukombinaten und verwaltet von den Arbeiterwohngenossenschaften und Kommunalen Wohnungsverwaltungen wurden über 160.000 Neubauwohnungen als Erfolg des „Wohnungsbauprogramms“ gefeiert. Trotz der monotonen Architektur bieten die zentral organisierten Produktionsketten und vor allem die Praxis der integralen Planung mit Grünanlagen, Verkehrsanschlüssen und den selbstverständlichen Wohnfolgeeinrichtungen wie Schulen, Kindergärten, Arztpraxen oder Gaststätten auch heute noch sinnvolle Anregung für den Wohnungsbau. Die Kehrseite der DDR-Baupolitik liegt unbestritten in der massiven Vernachlässigung der Altbauten und dem Versagen der staatlichen Wohnraumlenkung. (Was hätte sie tun sollen angesichts der fehlenden Wohnungen?) In fast allen Großstädten der DDR setzte sich wegen der unbefriedigenden Wohnversorgung das „Schwarzwohnen“ als Praxis der Selbstversorgung durch. Meist junge Menschen bezogen dabei nicht regulär vermietbare Altbauwohnungen und formalisierten ihren Wohnstatus bei den zuständigen Ämtern. Der Historiker Udo Grasshoff beschreibt, dass der illegale Bezug einer Wohnung in der DDR lediglich als eine Ordnungswidrigkeit geahndet wurde und von Behörden und Justiz in der Regel nicht verfolgt wurde. Das überrascht angesichts des ansonsten autoritären Staates. Die Kombination aus staatlicher Fürsorgefunktion und der Unfähigkeit, die Wohnungsfrage für alle zu lösen, zwang die DDR an dieser Stelle zur Großzügigkeit gegenüber der Eigenmächtigkeit.

Obwohl in Westberlin zunächst mit polizeilichen Räumungen und Repression auf die Hausbesetzungen reagiert wurde, setzte sich auch dort in den 1980er Jahren ein erstaunlicher Umgang mit den Gesetzesüberschreitungen durch. Angesichts von etwa 160 besetzten Häusern setzte der Senat nicht nur auf eine Legalisierung, sondern entwickelte sogar spezielle Förderprogramme zur baulichen Selbsthilfe. Mit großzügigen Zuschüssen wurden die Instandbesetzer*innen dabei unterstützt, die oft desaströsen Altbauten selbst zu modernisieren. Als Modell der „Behutsamen Stadterneuerung“ machte sich die ungewöhnliche Allianz zwischen Hausbesetzungen, Architektur und Verwaltung einen internationalen Namen und gilt bis heute als Musterbeispiel für eine partizipative Stadtentwicklung, bei der die Bewohnerinnen und Bewohner den Takt vorgeben.

Aktuell wird die Forcierung des  Wohnungsbaus als größte Herausforderung in Berlin angesehen. Gebraucht werden vorrangig leistbare Wohnungen für Menschen mit geringen Einkommen. Weil von privatwirtschaftlichen Investitionen keine günstigen Wohnungen erwartet werden, setzt der Senat  bis zum Jahr 2030 auf 100.000 Neubauwohnungen von gemeinwohlorientierten Bauträgern. Die begrenzten Kapazitäten von sechs getrennt agierenden landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften, die steigenden Baupreise und die Anwohnerproteste gegen viele Neubaupläne zeigen, dass dieses Ziel nicht ohne tiefgreifende Veränderungen erreicht werden kann. Wenn Wohnen ein Zuhause und nicht nur eine Immobilie sein soll, lohnt sich der Blick zurück.

Die Umverteilung von Vermietungsrenditen in Förderprogramme und die gemeinwirtschaftlichen Bau- und Planungskapazitäten aus den 1920er Jahren, die übergreifende Planung und die seriell organisierten Bauabläufe in der DDR sowie der Unterstützung von Eigeninitiative beim tolerierten Schwarzwohnen und der Behutsamen Stadterneuerung bieten sinnvolle Zutaten für eine andere Wohnungspolitik .

So wie Eltern und Kinder nicht nur unter den Corona-Bedingungen eine funktionierende Schule erwarten, sollte auch das Wohnen als soziale Infrastruktur gewährleistet werden Die Formel für die Berliner Stadtentwicklung im 21. Jahrhundert kann aus der eigenen Geschichte gewonnen werden: Öffentliche Finanzierung, gemeinwirtschaftliche Bauträger, eine planvoll koordinierte kommunale Wohnungswirtschaft und der Mut, Eigeninitiative der Bewohnerinnen und Bewohner zuzulassen.