In der Situation weltweiter politischer Destabilisierung sowie zunehmender sozialer Isolation muss die Aussage, dass „kein Mensch eine Insel ist“, überdacht werden. Wir alle sind Inseln, acht Milliarden Inseln, die den Planeten bevölkern. Angesichts der Komplexität unserer gesellschaftlichen Strukturen und sich beschleunigt verschiebender Machtverhältnisse innerhalb dieser Strukturen, ist der Status quo nur schwer auf einen Nenner zu bringen.
Was der Poet und Geistliche John Donne im Jahr 1623 formulierte, ist nach wie vor ein Wegweiser des Humanen, als solidarischer Handlungsansatz jedoch deutlich schwindend. In 400 Jahren sind mehr Inseln von der Erdoberfläche verschwunden als auf ihr entstanden. „Insel“ steht heute für ein geographisches Gebilde in Gefahr.
In den letzten Jahrzehnten hat sich die Gesellschaft der Industrienationen in verschiedenste Bedarfs- und Interessensphären aufgespalten; politische Ansichten, religiöse Überzeugungen, soziale und generationale Umschichtungen sind nur wenige, sichtbare Gründe dafür. Unsere Bindungen sind erheblichen Verformungen unterworfen, die Erosion überlieferter Lebensmodelle führt zu wachsender Vereinsamung.
2018 reagierte die Regierung in Großbritannien mit der Einrichtung einer Behörde zur Bekämpfung der Einsamkeit im Ministerium für Sport und Zivilgesellschaft. Die Corona-Pandemie hat die Gefahr der Vereinzelung noch einmal verschärft. Brechts Erkenntnis: „Der Mensch ist nicht elend, wenn er allein ist, sondern weil er allein ist“, fasst es zusammen. Alleinsein ist der Grund des Elends.
Isola, italienisch für Insel, zeigt die etymologische Nähe zum Begriff der Isolation. Großbritanniens „splendid isolation“ Ende des 19. Jahrhunderts, von deren Reaktivierung der Brexit träumt, markiert eine Mitte zwischen beiden Begriffen.
Mit der Erkenntnis, dass die Erde eine Kugel ist, die neben Festlandmassen Inseln trägt, entstand das Bewusstsein, dass der Begriff des Menschen ein Begriff der Insel ist. Die Frage nach den Codes unserer Identitäten und Kulturen ist somit eine Frage nach den Codes, mit denen wir den Begriff der Insel verhandeln: Was bedeutet „Insel“ uns, was machen wir mit ihr?
Der Flughafen Tegel vereint „Wabe“ und „Insel“ architektonisch. Die Wabe ist eine Insel, die mit anderen Inseln modulartig kombiniert werden kann. In seiner Gestalt aus gestaffelten Hexagonen – die zusammen mit dem Zentralgebäude und dem nicht realisierten Flugsteigring Ost die menschliche Gebärmutter und den Wabenbau der Bienen zitiert – ist der von Meinhard von Gerkan und Volkwin Marg entworfene Flughafen Architektur und Metapher in einem. Er ist Passagiere absorbierende/emittierende Zentrifuge der Moderne. Von dieser Insel des Transitverkehrs aus traten wir die Wege zu den Inseln an, auf die wir uns träumten.
In Archipel TXL betrachten wir reale Inseln wie Sachalin, Kuba, Taiwan, Lesbos, Capri, Island, Inseln der Mythologie und der Kunst wie Utopia, Atlantis, Vineta, „Schatzinsel“ und „Toteninsel“, Shakespeares magische Insel im „Sturm“; wir betrachten klimatische Inselräume und politische wie Westberlin oder Kaliningrad, Inseln, die Orte des Rückzugs sind, soziale Inseln des Einzelnen, den bürgerlichen oder nichtbürgerlichen Wohnraum, Inseln der Unruhe, Inseln gegensätzlicher Diversität und Inseln der Koexistenz.
Die Corona-Krise hat unserem Raumverständnis einen Strich durch die Rechnung gemacht. Die selbstverständliche Bewegung im kartographisch erfassten Raum, der Begriff des Reisens allgemein, wurde urplötzlich infrage gestellt. Und diese Bewegung wird nicht ohne weiteres wieder „normal“ werden. Das erzwungene Innehalten ist nicht nur Störung, sondern auch Gelegenheit zur Reflexion.
Mit den Begriffen des Reisens, der Bewegung, des Raums werden auch Begriffe wie Freiheit und Notwendigkeit neu vermessen. Archipel TXL ist ein Versuch, die Begriffe neu zu untersuchen, neu zu ordnen, zu erweitern.