Foto © Franziska Hauser //
Berliner Briefroman. Nicht nachsenden //
Mit ihm verschwand am 13. Oktober 2021 eins der seltenen Gesichter der Stadt, in das man unbefangen hineinlachen konnte. Ich kannte, kenne keinen, der Konfusion, Zielstrebigkeit und freundliches Zugewandtsein so vereint hat wie der Mann, den alle Schöni nannten, ein Diminutiv passend wie ein Cordjackett.
Ich hatte gehört von ihm, Jahre bevor ich ihn traf und wir uns gegenseitig Bücher liehen oder über die Bücher sprachen, die man sich gegenseitig leihen könnte, vorausgesetzt man hätte sie.
Anfang der 80er hatte ich als Kulissenschieber am Deutschen Theater die Erwachsenenwelt betreten, ein Ort, an dem man sich hinter der Bühne wie im Testlauf in eine Gesellschaft einpassen konnte, die man von hinten und von unten her besser verstand. Nur scheinbar paradox, dass das Theater offiziell auch Staatstheater war. Die Mauer stand 200 Meter weiter, da wo die S-Bahn, wie auch immer sie das machte, in den Westen fuhr.
Ich war als Abiturient dorthin gekommen, die Leute, die als Techniker und Requisiteure dort arbeiteten, stellten in den Worten eines anderen freundlichen Mannes, Heiner Müller, einen Hort der Konterrevolution dar, aus ganz verschiednen Perspektiven, Stasileute eingeschlossen. Die, die hier Kulissen wirklich noch schleppten, waren aus allen möglichen Lebenszusammenhängen, manche noch von Brechts Theater, hierher geflohen. Einer, Stegemann gerufen, hatte Max Reinhardt noch gekannt, war im Krieg gewesen und erzählte aberwitzige Geschichten von Brecht und seinem roten Cabrio, das keinen Fußboden hatte. Und dann war da noch der Mann, den sie Schöni nannten, der war angeblich aus der Champignonzucht gekommen, und er war schon wieder weg.
Zwischen den Proben und Vorstellungen saßen wir in den Mannschaftsräumen und spielten Schach. Ich nicht, ich sah zu. Kalle Grünberg, Ingenieur aus Leuna und Kulissenschieber, ein Mensch namens Schapka, andere, deren Namen ich vergessen habe, und Volker Pfüller, Bühnenbildner, sprachen, wenn sie spielten, öfter ein Schachgenie „Schöni“ an, das aber abwesend war. Die letzten Züge einer Partie hingen nachgezeichnet auf Millimeterpapier neben dem Dienstplan an der Wand. Schöni arbeitet hier nicht mehr, Schöni trinkt nicht mehr. Übrigens ist er jetzt Theatermusiker in Anklam. In Anklam? In Anklam. Aha.
Es war um das Jahr 2000 herum, als er kurz nach sieben am Morgen (es war, das weiß ich noch, noch dunkel) vor unsrer Tür stand und eine Brille haben wollte. Wir saßen kleinfamilienfrisch in der Küche, meine Frau, unser ziemlich neugeborner Sohn und ich, und Schöni dampfte wie ein Pferd. Er war auf dem Weg zu einer Beerdigung irgendwo am Rand von Berlin, er sollte da orgeln, hatte nachts zuviel Kaffee und keinen Schlaf gehabt, und als er in der Straßenbahn eingenickt war, die Brille verloren, die hatte er vorsichtshalber abgelegt. Wir hatten ähnliche Metallgestelle, seltsam, dass er, der weitsichtig war, mit meinem kurzsichtigen zurechtkam. Ich gab ihm die Brille, ein paarmal sah ich sie noch in seinem Gesicht, wenn wir uns trafen, dann saß da eine andere.
„Die Brille“ ist eine Geschichte von dutzenden, die dutzende erzählen könnten oder die Schöni selbst erzählte. Als legendär würde ich die bezeichnen, in der er betrunken ohne Fahrkarte und ohne Ausweis bis Brno gefahren war, im D-Zug mit der Reichsbahn, wie das damals hieß. Legendär auch, wie er im Suff mit dem Traktor eine ganze LPG plattwalzte. Das muss vor Anklam gewesen sein.
Legendär auch sein Wohnen, das die wenigstens bezeugen können, und das nach Schönis eignem Berichten jener von Benjamin als „pathologisch“ definierten Wohnform, die „dem Wohnenden das Minimum von Gewohnheiten mitgibt“, entsprochen haben muss, dem „vernutzenden Hausen“. Wohnen war ein Thema, das Gehäuse war ein Thema. Weniger in der Sorge, es sich irgendwann nicht mehr leisten zu können, als in der Not, von Technik umstellt dort drinnen irgendwie zurechtkommen zu müssen. „Ich bin doch wie ein Hund. Ich brauch meine Decke und sonst nichts.“ Legendär die langdauernde Weigerung, ein Handy anzunehmen oder das Internet anfassen zu müssen: „Die Tür ist zu, aber die Wand ist weg.“
Legendär und jeden Realismus perforierend sind all diese von-und-mit-Schöni-Geschichten, die wie Schachzüge das Brettspiel eines Lebens vermaßen, und das in seiner unerbittlichen Rationalität dialektische Entsprechung des Schöni-Lebens war. Dass er sich mit aller Freundlichkeit nicht impfen lassen wollte und er an Corona starb, könnte eine andere Entsprechung sein.
Im Gegensatz zu Kafkas Junggesellen Blumfeld, war Gerd Schönfeld ein dem Leben und seinen Tischtennisbällen vollkommen zugewandter Junggeselle, er konnte umgehen mit Kindern und die Kinder mit ihm. Ich war überrascht, als meine Tochter Gerda, 16 inzwischen, meinte, Schöni wär eine Art Onkel für sie gewesen. Nicht, weil er immer „Schokoriesen“ mitbrachte, wenn er vorbeikam, nein, wegen der Geschichten und dem kunstvollen Umgang mit dem Gestottere. Ich kenne nur noch einen Menschen, der das mit soviel Eleganz durchs Leben trägt, wie Schöni es getan hat.
Der libidinöse Faktor des Stotterns, der jedes Pathos, besonders das verordnete, unterläuft, ist soziologisch vielleicht nicht untersucht, war aber bei Schöni nicht zu unterschätzen. Sein Schachverein schreibt im Nachruf, dass „seine kombinatorische Gabe gefürchtet war“. Wir sind gespannt , was auf dem „künstlerisch gestalteten Grabstein“, für den der Berolina Mitte auf www.betterplace.me Geld gesammelt hat, zu lesen sein wird.
Die hundert oder zweihundert beim Begräbnis auf dem Georgen-Parochial an einem sonnigen Novembertag sprechen für sich, für Schöni. Zum erstenmal hatte ich das Gefühl, der Mann, um den man trauert, geht unentdeckt, kopfnickend, kopfschüttelnd, lachend und nicht mehr neugierig umher zwischen uns allen. Er hätte viele Hände zu schütteln gehabt. Und er wäre nur als Organist in die Kapelle gelangt, die sich als zu klein für seine eignen Trauergäste zeigte.
Ich erinnere mich an Schönis Begräbnismusiken, bei denen sämtliche Notenblätter einmal und dann immer wieder runterfielen, was wie das Stottern den Trauerfeiern ein irrationales Gepränge gab, das sie so nötig haben. Stottern, Schach, Musik, der Wirbel an Geschichten, waren das jahrzehntelange Warmlaufen für das Aufzuschreibende, was er dann über Jahre endlich tat.
Schönfelds Debüt „Schackelstern“ (Kurztitel), überraschte natürlich vor allem die, die vorab im Gegner gedruckte Serie „Ständig tragen deine Nägel Trauer“ nicht kannten. Die, die sie kannten, waren von „Schackelstern flogen spät durch milde Lüfte, oder: Der Klassenfeind ist unter uns“ (Langtitel) überrascht, weil die kompakte Lektüre zwischen zwei Buchdeckeln das polyphone Spektrum auf seltene Weise aufriss. Selten, weil – wie oft gibts schon Berlin-Literatur mit wirklichem Witz, der auf dem Weg zwischen ausgesprochen und aufgeschrieben nicht auf der Strecke bleibt? Gibts, eigentlich, nicht.
Dass Schöni dem totgeglaubten Briefroman auf die Sprünge helfen würde, hätte niemand vermutet. Ich nicht. Ich höre noch seinen Anruf mit der Frage, wo denn die Seite auf dem Computer rechts ihren Rand habe, er könne jetzt einfach die Buchstaben nicht mehr sehen, wo die denn hin seien. Die Buchstaben kamen zurück auf die unfassbaren Seiten im Computer, Hugo Velarde aus Bolivien hat sie eingefangen – und dann ist es passiert:
Zwei Bände solcher „selbstgeschriebenen Briefe“ des eulenspiegeligen Kindes Franz an seinen abwesenden Onkel Karl in Oranienburg, die den Alltag der gespaltenen Stadt aus der Perspektive des Ostbewohners gestisch und extrem unterhaltsam wiedergeben, hinterlässt der Autor, dessen Asche jetzt in einem dieser wie Gullydeckel arrangierten Grablöcher liegt. Auf der Straßenseite gegenüber an der Greifswalder. Ich, vom vierten Stock aus, kann es sehen.