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Tag Märzgefallene

„Zerrüttung der Kompensation“ ist der Titel einer unvollendeten Erzählung Anton Tschechows. Kompensation meint hier den Familienzusammenhalt, Verbundenheit durch Verwandtschaft, Geschäfte. Ein Sterbender zieht den Rest mit in den Abgrund.

Zerrüttung der Kompensation – egal, was du zu dir nimmst, der Krieg interpretiert alles. Jede Lektüre wird zum Politikum, jedes Wort zum Gleichnis.

Die geopolitische Konstruktion zeigt sich in kleinsten Koinzidenzen. Am 18. März 2014 wird die Krim mit der Russischen Föderation gewaltsam zusammengelegt. Am 18. März 2022 feiert die russische Regierung den Anlass mit einer Sportpalastrede Putins im Luschniki-Stadion in Moskau, die vierte Woche Krieg gegen die Ukraine. Am selben Tag trifft auf der Insel Sachalin der erste Zinksarg aus der Ukraine ein.

Auf den Friedhof der Märzgefallenen im Friedrichshain wird der jährliche Kranz mit Schleife des Bundespräsidenten gebracht, den anstehenden Besuch der Politik sichern Polizei und Stadtreinigung. Ein Mensch poliert die Beine der Parkbänke, die Grabsteine, ein anderer legt Rosen aus, eine auf jeden Stein, der an einen der vor 174 Jahren Erschossenen erinnert.

Arbeitsfrau, Arbeitsmannsfrau, Arbeitsmann, Handlungsdiener, Korbmacherfrau, Maurer, Tischler, Drechsler, Schuhmacher- und Schlossergesell sind Berufe der als „Märzopfer“ von Altekopf, J. bis Zinna, Ernst, hier begrabenen. Krause, Wilhelm, Schauspieler, ist auch dabei und mindestens ein Unbekannter. Es ist das Alphabet einer bürgerlichen Zivilgesellschaft in ihren Gründungskämpfen, ausgelegt auf Steinen im Gebüsch wie Zeittafeln einer Sonnenuhr.

Wenn ein Befehl einen Krieg auslösen kann, ist Zivilcourage das letzte, was ihn beenden kann. Zivilcourage baut Barrikaden. Zivilcourage treibt Menschen an die Waffen, in den Krieg. „Im Krieg musst du schießen, wenn du ein Mensch bleiben willst“, zitiert Swetlana Alexijewitsch eine Frau, die, ein Kind noch, als Partisan an die Front ging.

Alexijewitsch, geboren in der Ukrainischen Sowjetrepublik, Bürgerin von Belarus, Autorin, die auf Russisch schreibt, bekommt viel Arbeit. Seit zwei Jahren lebt sie im deutschen Exil. „Die Tradition der Unterdrückten“ nannte Benjamin das Leben in Unfreiheit und den Kampf dagegen. Es ist die Tradition, aus der Alexijewitschs Literatur sich schreibt.

Die Revolutionen in Berlin 1848/49 von Bukarest bis Paris, von Posen, Berlin, München bis Venedig und Rom, die im März 1871 ausgerufene Commune in Paris, der Kiewer Euro-Maidan 2014, die Barrikaden in den Straßen von Kiew und Charkiw im März 2022, sind Revolutionen im Versuch, die Tradition der Unterdrückten zu beenden. Sie formulieren ein Geschichtsverständnis, das am Beginn einer Ordnung steht, die gewählte staatliche Souveränität mit den demokratischen Rechten des Einzelnen vereint.

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