Die Vergangenheit des künftigen Faschismus
Gemessen an den Erkenntnissen der Soziologie und der Geschichte, an Logik und Fakten, stellen wir, nicht ohne erhebliches Unbehagen, fest, dass die Bombe des Faschismus bereits in der postsowjetischen Gesellschaft gelegt worden ist. Die Bombe des sehr realen, aber unentdeckten, unbenannten Faschismus. Eine Zeitbombe. Nur wenige waren in der Lage, diese Gefahr im Trubel der Perestroika zu erkennen, nur wenige wollten sie sehen. 1993 schrieb der Science-Fiction-Autor Boris Strugatzki einen Essay mit dem Titel „Faschismus ist ganz einfach“. Er wurde zwei Jahre später, am 8. April 1995 in der Sankt Petersburger Zeitung Nevskoe Vremja („Newa-Zeit“) veröffentlicht.
Die Gebrüder Strugazki – Arkadi (1925-1991) und Boris (1933-2012) – hatten früh begonnen, über den Faschismus zu schreiben. Nach dem Beginn der Entstalinisierung hatten viele junge Autoren das Gefühl, dass die kommunistische Utopie jetzt endlich Wirklichkeit werden könne. Auch die ersten Werke der Strugatzkis, die von Beginn an „Hand in Hand“ schrieben, waren von Optimismus und Glauben an den sozialen Fortschritt geprägt, der jedoch sehr bald durch pessimistische Ironie ersetzt wurde.
Ende der 1960er Jahre – nach Chruschtschows Verdammung und dem endgültigen Ende des politischen Tauwetters, das mit dem Abbruch der Avantgarde-Ausstellung „Neue Realität“ in der Moskauer Manege im Sommer 68 ein deutliches Signal hatte – wurde klar, dass ein Rückfall in die Vergangenheit stattgefunden hat und sich die Prophezeiungen der Utopie nicht erfüllen werden. Von diesem Moment an versuchten die Strugazkis zu verstehen, welchen Einfluss die Intelligenz in einer totalitären und faschistischen Gesellschaft hat, was für die Intelligenz zu tun ist, die zwischen der Obrigkeit, der sie sich widersetzt, und dem Volk, den Massen, denen die Strugatzkis eher ablehnend gegenüberstehen, gefangen ist.
Der Kampf der Macht mit der Intelligenz ist der Kampf jedes autoritären Regimes. Er ist das, was Umberto Eco später den ewigen Faschismus, den „Urfaschismus“ nennen wird. Es ist der Wunsch nach Vereinfachung, der unbedingte Glaube an die Macht, das Vertrauen in irgendeine, meist diffuse Tradition, die Verfolgung Andersdenkender, die neue, synthetische Sprache der Macht, die permanente mehr und weniger subtile Propaganda, die Durchideologisierung des Alltags. Die Strugatzkis meinen, dass der ewige Faschismus der Normalzustand der weniger gebildeten Mehrheit ist. In einer solchen Gesellschaft resultiert die Macht auf der Manipulation dieser Menschen, der großen grauen Masse. Intellektuelle können die Situation in diesem Fall nicht ändern; sie ermöglichen nur, dass die Gesellschaft nicht bis zum letzten depraviert wird. Eine solche Gesellschaft ist nicht bereit für Revolutionen – weder intellektuell, moralisch noch technisch. Sie kann nur mehr Böses hervorbringen, mehr Diffamierung, mehr Destruktion.
Jeder Roman der Strugazkis erweist sich als eine Art Experiment, mit dem die Autoren versuchen, verschiedene Gesellschaftssysteme zu testen oder durchzuspielen. Wir können sie als Tests unterschiedlicher Metanarrative lesen. So wird in dem kafkaesken Roman „Die Schnecke am Hang“ (1968) das Narrativ des gesellschaftlichen Fortschritts in Frage gestellt, während in „Picknick am Wegesrand“ (1972) der Erkenntnisprozess kritisiert wird. Der Roman „Die verdammte Stadt“ (1987) stellt die Grundsätze der demokratischen Gesellschaft infrage, da die Demokratie in einem faschistischen Staatsstreich endet.
Trotz des düsteren Blicks in die Zukunft finden die Autoren eine Antwort auf die ewige Frage: „Was tun?“ Die Antwort ist nicht neu, sie muss jedoch immer aufs neue erkämpft werden. Nicht die Revolution – die Evolution kann die moderne Gesellschaft retten. Eine Erkenntnis, die auch hier, im deutschen Raum, von Belang ist: Es ist die Bildung, die eine neue Gesellschaft formt, die lehrt, wie wir historische, kulturelle und politische Quellen kritisch bewerten; es ist die Bildung, die die notwendigen Werkzeuge bereitstellt, die Sichtweisen erweitert und hilft, Antworten auf die Frage zu finden, wie es dazu kommen konnte, dass im postsowjetischen Raum ein faschistisches Monster heranwuchs, das uns alle bedroht.
Boris Strugatzki
Faschismus ist ganz einfach
Ein epidemiologisches Memo
Die Pest ist in unserem Haus. Wir wissen nicht, wie wir sie behandeln sollen. Wir können nicht mal eine anständige Diagnose stellen. Und wer bereits infiziert ist, merkt oft nicht, dass er krank und ansteckend ist.
Man glaubt, man wüsste alles über den Faschismus. Schließlich weiß jeder, dass Faschismus schwarze SS-Uniformen, bellende Reden, zum römischen Gruß erhobene Arme, Hakenkreuz, schwarz-rote Fahnen, marschierende Kolonnen, Skelette hinter Stacheldraht, fettiger Rauch aus den Schornsteinen der Krematorien bedeutet, dazu der tobende Führer mit dem Pony, der fette Göring, der durch seinen Zwicker blitzende Himmler und ein halbes Dutzend mehr oder weniger authentischer Figuren aus Filmen wie „Siebzehn Augenblicke des Frühlings“, „Heldentaten eines Kundschafters“ oder „Der Fall von Berlin“.
Ja, wir wissen sehr wohl, was Faschismus ist – der deutsche Faschismus, auch bekannt als Hitlerismus. Es kommt uns nicht einmal in den Sinn, dass es noch einen anderen Faschismus gibt, der genauso abscheulich und schrecklich ist, nämlich unsern eigenen, hausgemachten Faschismus.
Das ist vermutlich der Grund, warum wir ihn nicht sehen, wenn er vor unseren Augen im Körper des Landes wächst wie ein stilles bösartiges Geschwür.
Zwar erkennen wir als Runen getarnte Hakenkreuze, hören heisere Schreie, mit denen zum Abschlachten von Ausländern aufgerufen wird, entdecken gelegentlich obszöne Parolen und Bilder an den Wänden unserer Häuser. Aber wir können uns nicht eingestehen, dass auch das Faschismus ist. Wir denken immer noch, Faschismus bedeutet SS-Uniformen, bellende Ausländersprache, fettiger Rauch aus Krematorien, Krieg …
Nun arbeitet die Akademie der Wissenschaften, in Erfüllung des Präsidialdekrets, fieberhaft an einer wissenschaftlichen Definition des Faschismus. Wir müssen davon ausgehen, dass diese präzise, umfassend und für alle Fälle geeignet sein wird. Und natürlich wird sie teuflisch kompliziert sein.
Dabei ist der Faschismus einfach, mehr noch: er ist sehr einfach! Faschismus ist eine Diktatur der Nationalisten. Dementsprechend ist ein Faschist eine Person, die sich zur Überlegenheit einer Nation über andere bekennt (und dies predigt) und gleichzeitig ein aktiver Verfechter der „eisernen Hand“, von „Zucht und Ordnung“, der „jeschowschen Fausthandschuhe“ und anderer Freuden des Totalitarismus.
Das ist alles. Im Kern des Faschismus gibt es nichts anderes. Diktatur plus Nationalismus. Die totalitäre Herrschaft einer Nation. Und alles andere – Geheimpolizei, Lager, Bücherverbrennungen, Krieg – keimt aus diesem giftigen Samen wie der Tod aus einer Krebszelle.
Eine eiserne Diktatur mit all ihren sepulkralen Reizen ist möglich, wie, sagen wir, die Diktatur Stroessners in Paraguay oder die Diktatur Stalins in der UdSSR, aber da die Grundidee dieser Diktaturen keine nationale („rassische“) Idee ist, ist sie dennoch kein Faschismus. Es ist möglich, einen Staat zu haben, der auf einer nationalen Idee basiert, sagen wir, Israel, aber wenn es keine Diktatur gibt („eiserne Hand“, Unterdrückung der demokratischen Freiheiten, allmächtige Geheimpolizei), ist auch dies kein Faschismus.
Ausdrücke wie „Demofaschist“ oder „faschistischer Demokrat“ sind völlig sinnlos und unqualifiziert. Sie sind so absurd wie „eiskaltes Sieden“ oder „wohlriechender Gestank“.
Ein Demokrat kann zwar bis zu einem gewissen Grad Nationalist sein, aber er ist per definitionem ein Feind jeglicher Diktatur und kann daher einfach kein Faschist sein. Genauso wenig wie ein Faschist ein Demokrat sein kann, ein Befürworter der Redefreiheit, der Pressefreiheit, der Freiheit von Kundgebungen und Demonstrationen, ist er immer nur für eine Freiheit – die Freiheit der Eisernen Hand.
Ich kann mir gut vorstellen, dass jemand nach der Lektüre all meiner Definitionen zweifelnd sagen wird: „Du meinst also, dass vor fünf- oder sechshundert Jahren nur Faschisten auf der Welt waren: Fürsten, Könige, Herren und Vasallen …“.
In gewisser Hinsicht träfe diese Bemerkung auch ins Schwarze, denn sie stimmt „genau im Gegenteil“: Der Faschismus ist ein Feudalismus, der sich weiterentwickelt hat, der sowohl das Zeitalter des Dampfes und der Elektrizität als auch das Zeitalter des Atoms überlebt hat und bereit ist, das Zeitalter der Raumfahrt und der künstlichen Intelligenz zu überleben.
Die feudalen Verhältnisse sind scheints verschwunden, doch die feudale Mentalität hat sich als stark und mächtig, stärker als Dampf und Elektrizität, stärker als die umfassende Alphabetisierung und Computerisierung erwiesen.
Seine Vitalität ist zweifellos darauf zurückzuführen, dass der Feudalismus seine Wurzeln in der vorfeudalen, höhlenmenschlichen Zeit hat, in der Mentalität einer Flohherde schwanzloser Affen: Alle Fremden, die im benachbarten Wald leben, sind ekelhaft und gefährlich, während unser Anführer wunderbar grausam und weise ist und seine Feinde besiegt. Diese ursprüngliche Mentalität wird die menschliche Rasse offenbar nicht so bald verlassen. Und so ist der Faschismus der Feudalismus von heute. Und der von morgen ist er auch.
Nur verwechseln Sie um Gottes Willen nicht Nationalismus mit Patriotismus! Patriotismus ist die Liebe zum eigenen Volk, während Nationalismus die Abneigung gegen das fremde bedeutet. Ein Patriot weiß sehr wohl, dass es keine guten oder schlechten Nationen gibt, nur gute und schlechte Menschen. Ein Nationalist hingegen denkt immer in Begriffen wie „Freund – Feind“, „die unseren – nicht unsere“, „Diebe – Dummköpfe“, er hält ganze Völker für Schurken, Idioten oder Banditen.
Dies ist das wichtigste Merkmal der faschistischen Ideologie – die Einteilung der Menschen in „unsere und nicht unsere“. Stalins Totalitarismus basiert auf einer ähnlichen Ideologie, deshalb sind sie sich so ähnlich, diese Regime – mörderische Regime, kulturzerstörende Regime, militaristische Regime. Nur Faschisten teilen die Menschen in Rassen und Stalinisten teilen sie in Klassen ein.
Ein weiteres sehr wichtiges Merkmal des Faschismus ist die Lüge.
Natürlich ist nicht jeder, der lügt, ein Faschist, aber jeder Faschist ist zwangsläufig ein Lügner. Er ist einfach gezwungen zu lügen.
Sogar eine Diktatur lässt sich manchmal noch halbwegs rechtfertigen, aber Nationalismus nur mit Lügen – mit irgendwelchen falschen „Protokollen“ oder Sprüchen wie „die Juden haben das russische Volk besoffen gemacht“, „alle Kaukasier sind geborene Verbrecher“ und dergleichen. Das ist der Grund, warum Faschisten lügen. Sie haben schon immer gelogen. Und niemand hat sie besser beschrieben als Ernest Hemingway: „Faschismus ist eine Lüge, die von Banditen erzählt wird.“
Wenn Sie also plötzlich „erkannt“ haben, dass nur Ihre Leute alle Vorteile verdienen und alle anderen Menschen um Sie herum zweitklassig sind, dann herzlichen Glückwunsch: Sie haben den ersten Schritt in den Faschismus getan. Dann dämmert Ihnen, dass Ihre Nation nur dann hohe Ziele erreichen wird, wenn eine eiserne Ordnung errichtet wird und all den Schreihälsen und Papierfressern, die von Freiheiten reden, das Maul gestopft wird; wenn alle, die sich ihr widersetzen, an die Wand gestellt werden (ohne Verfahren und Ermittlung), und die Ausländer gnadenlos aufgeknüpft werden.
Und wenn Sie das alles akzeptiert haben, ist der Prozess schon zu Ende: Sie sind ein Faschist. Sie tragen keine schwarze Uniform mit einem Hakenkreuz, Sie haben nicht die Angewohnheit, „Heil!“ zu schreien. Aber Sie waren Ihr ganzes Leben lang stolz auf den Sieg unseres Landes über den Faschismus, und vielleicht haben Sie diesen Sieg sogar persönlich herbeigeführt. Und Sie haben sich in die Reihen der Kämpfer für eine nationalistische Diktatur eingereiht und Sie sind schon Faschist. Wie einfach! Wie furchtbar einfach.
Und jetzt sagen Sie nicht, dass Sie kein böser Mensch sind, dass Sie gegen das Leiden der Unschuldigen sind (nur die Feinde der Ordnung gehören an die Wand und nur die Feinde der Ordnung hinter Stacheldraht), dass Sie selbst Kinder und Enkelkinder haben, dass Sie gegen den Krieg sind … All das spielt keine Rolle, solange Sie dem „Sakrament des Büffels“ huldigen.
Der Weg der Geschichte ist längst vorgezeichnet, die Logik der Geschichte gnadenlos, und sobald Ihre Führer an die Macht kommen, setzt sich ein gut geöltes Fließband in Gang: Beseitigung Andersdenkender – Unterdrückung des unvermeidlichen Protests – Konzentrationslager, Galgen – Niedergang der friedlichen Wirtschaft – Militarisierung – Krieg …
Und wenn Sie irgendwann zur Vernunft kommen und dieses schreckliche Fließband stoppen wollen, werden Sie gnadenlos vernichtet, wie jeder durchschnittliche Demokraten-Internationalist.
Ihre Fahnen werden nicht rot und braun sein, sondern, zum Beispiel, schwarz und orange. Sie werden bei Ihren Treffen nicht „Heil!“ rufen, sondern „Ruhm!“ sagen.
Sie werden keine Sturmbannführer haben, sondern irgendwelche Kosaken-Anführer, aber das Wesen des Faschismus – die Diktatur der Nazis – wird bleiben, und das bedeutet, dass es weiterhin Lügen, Blut, Krieg – vielleicht einen Atomkrieg – geben wird.
Wir leben in gefährlichen Zeiten. Die Pest ist in unserem Haus. Sie trifft in erster Linie die Beleidigten und Erniedrigten, und davon gibt es heute viele.
Kann die Geschichte rückgängig gemacht werden? Vielleicht kann sie das – wenn Millionen von Menschen es wollen. Wir sollten es besser nicht wollen. Schließlich hängt eine Menge von uns ab. Natürlich nicht alles, aber eine Menge.
Deutsch von Thomas Martin