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Tag Anton Tschechow

Как жить? Das tieranatomische Theater des Dr. Anton Tschechow //

Stab und Stecken seines Wanderns in der kappen Zeit, die ihm gegeben war auf Erden (um so länger hält sein Nachleben und die zarte Schlagkraft an) waren die „Selbstbetrachtungen“ des Marc Aurel, ein Philosoph im Herrscher, der im Philosophen eines anderen Imperiums, inkarniert als Lenin, wieder auferstand mit Folgen.

„Wie leben?“ war die Frage des Kaisers in Rom, die ihn überlebte. Anton Pawlowitsch Tschechow, Kaufmannssohn aus Taganrog – unter Marc Aurel ein Grenzbezirk im Osten Roms, Heimat der Skythen am Asowschen Meer – hat sie seinen Figuren aufs immer Neue in den Mund gelegt. „Nach Moskau, nach Moskau!“ ist ihr „Sein oder Nichtsein“. Die Kunst erfindet Fragen, Lösungen, nein, hat sie keine; Probleme, ja, kann sie benennen. „Leben!“, sagt Tschechow, und er fragt „wohin?“

Er stammte von Bauern, wollte Doktor werden, wurde Dichter, der als Anatom mit dem Federhalter in der präzisen Balance des Tranchiermessers schrieb. Die Menschen wie die Tiere anzusehen, mit der Distanz, die das Aneinandervorbeireden erzeugt, ist auch ein Phänomen im Film, wie ihn Chabrol zum Beispiel machte.

Die Krankheit findet der Künstler, Heilung der Arzt. Zur fruchtbaren nicht zahlreichen Spezies in Personalunion beider Berufe, gehört Tschechow. Der Landarzt Bulgakow trieb nach der Revolution, die Tschechow nicht erlebte, die Literatur in luftärmere, absurdere Regionen fort.

Die Vergangenheit, dachte er, ist mit der Gegenwart verbunden durch eine ununterbrochne Kette von Ereignissen, die eines aus dem andern hervorgehen. Und ihm schien, als hätte er soeben beide Enden dieser Kette gesehen: das eine Ende hatte er berührt, da zuckte das andere. (Tschechow, Der Student, 1894)

Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. (Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, 1940)

… der Sarg des Schriftstellers, den Moskau so „zärtlich liebte“, war in einem grünen Kühlwaggon transportiert worden, auf dessen Türen in großen Buchstaben die Aufschrift FÜR AUSTERN prangte. (Heiner Müller mit Robert Wilson, 1986)

Man kann vieles über ihn sagen, sogar noch nicht Gesagtes … Die Präzision seines Schreibens, Luftigkeit und Konsequenz der Dialoge, Rationalität noch in Exzess und Überschwang, in der Depression der „Bauern“ beispielsweise … die Technik des harten Schnitts, das Schöne neben das Grausame zu stellen, den Schrecken zu implantieren ins Naive: „In der Schlucht“ … Traumdeutung und Ausbeutung miteinander zu verschneiden: „Der Schwarze Mönch“ … die Setzung der Figuren Kafkas auf den Spielplan der Prosa des kommenden Jahrhunderts, den „Landarzt“ in „Der Petschenege“ … die Vorwegnahme des absurden im psychologischen Theater …

Seine Prosa ist ein Lebensmittel, leicht wie ein Soufflé, nahrhaft und voll von Ballaststoffen wie ein Roggenbrot. Kulinarische Vergleiche sind „recht eigentlich idiotisch“ – aber: es gibt Literaturen, auf die möchte man ebensowenig verzichten wie, siehe oben, Lebensmittel.

Seine Stücke … von den Stücken später. Ihr adäquater Ort ist das Tieranatomische Theater, Berlin-Mitte, zwischen Charité und Kammerspielen. Ein Bühnenraum wie ein Schädel gezirkelt, der, in einem Tempel an der Friedrichstraße gefangen, auf Texte wartet wie ein Laboraffe auf Nahrung.

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