17.05. 1846 // 22.05. 2021
Berlin gedacht, Sankt Matthäus gedacht
Die Stadt. Ein vergessener Autor, vergessenes Werk, unvergessene Kirche
Berlin ist bereits in all seinen Verhältnissen als eine große Stadt zu betrachten. Diese großen Städte sind, wie man es nehmen will, ebensowohl die Höhepunkte als auch die großen Geschwüre der gegenwärtigen Kulturepoche Europas. Die Bildung solcher Städte ist für den Organismus des jetzigen Lebens notwendig geworden. Wäre dies nicht der Fall, wie würde sich in der märkischen Sandwüste, wohin keine Naturbegünstigung, sondern nur das Vertrauen auf das Wachstum eines neuen Staates locken konnte, eine solche Welt haben bilden können?
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Berlin hat sich, namentlich seit der Entfesselung der Gewerbe, mehr noch seit dem Weltfrieden in einem erstaunlichen Umfange zu einer modernen Stadt, worin Erwerb, Konkurrenz, Handel und Industrie die Schlagadern bilden, entwickelt. Und so wächst es denn einer Größe und Zukunft entgegen, deren Gestalt gar nicht vermutet werden kann. Am Schlusse des Jahres 1845 hatte Berlin, inklusive Militär, 385.129 Einwohner. Für die Mitte des Jahres 1846 perspektivieren wir um die 400.000.
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Solche unverhältnismäßige Steigerung in der Bevölkerung Berlins ist wohl geeignet, nicht bloß die Aufmerksamkeit des Staatsmannes und des Kommunalbeamten zu erregen, sondern auch die desjenigen, der die sozialen Verhältnisse der Gegenwart unseres Leben zu seinem Studium zu machen wünscht. Das natürlichste ist es nun aber jedenfalls zu fragen, woraus besteht dieser Strom, der sich jeden Tag, jedes Jahr und in immer größerer Breite mit seinen meistens schlammigen Wellen in die märkische Weltstadt hineinwirft?
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Natürlich zeigt sich der Zusammenhang Berlins mit dem herrschenden Prinzip der Masse nicht als Resultat eines Parteienbewusstseins, sondern nur als ein Indifferentismus gegen alle politischen Elemente, die mit dem bestehenden Zustande in entschiedenen Widerspruch geraten sind. Andererseits wird der Indifferentismus durch den Charakter, welchen Berlin als Großstadt angenommen hat, sehr bedeutend gefördert. Der Kampf um die materiellen Güter des Lebens, das verzweifelte Ringen um eine Existenz, die Konkurrenz, die Geldausbeutung, welche sich in Berlin bis zu den widerlichsten Ausläufen entwickeln, halten die Massen von den abstrakten Fragen der Politik zurück und lassen sie gleichgültig gegen alle Krisen, die sich nicht unmittelbar auf das materielle Gebiet beziehen.
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Berlin ist die Stadt des Geheimnisses und der Geheimtuerei. Es ist nicht so leicht, ihm an seinen Puls zu fühlen, ihm seine Regungen und Bewegungen abzulauschen. Wenn sich für den Kundigen auch in dieser großen Stadt der Karneval aller menschlichen Zustände erkennen läßt, so sieht doch der weniger Bewanderte in der Regel nur kalte Masken, die nichts sagen, die aber alles sagen können. Es ist ein kräftiger Genuß, sich in die rauschenden Wogen eines durchaus öffentlichen Lebens zu stürzen und alle Ziele frei und ungehindert vor sich zu sehen; zu beobachten, wie sich jeder gibt, wie er eben ist, und wie sich dadurch eine überaus reiche, bunte Welt gestaltet, aber es ist nicht minder ein Genuß, auf zum Teil verbotenen oder doch gewundenen Wegen zu leben, zu erfahren, zu erforschen und hinter Geheimnisse, hinter die Mannigfaltigkeit der sozialen Zustände und Konflikte zu kommen. Wer mit kräftigen, gesunden Armen den vollen Wogenschlag eines öffentlichen Lebens durchrudern will, den wird Berlin immer unbefriedigt lassen, wem es aber darum zu tun ist, den Schleier von so mancher Verhüllung zu reißen und im stillen zu beobachten, wie sich unter einer äußerlichen Uniformität die größte Verschiedenheit entwickelt, wie eben, weil oben alles glatt und scheinbar regelmäßig ist, nach unten alles um so wilder und unregelmäßiger durcheinander stürzt, für den gibt es in Deutschland keine zweite Stadt von einem so vielseitigen Interesse wie Berlin.
Jeremia 29,1-7
Dies sind die Worte des Briefes, den der Prophet Jeremia von Jerusalem sandte an den Rest der Ältesten, die weggeführt waren, an die Priester und Propheten und an das ganze Volk, das Nebukadnezar von Jerusalem nach Babel weggeführt hatte (…) – So spricht der HERR Zebaoth, der Gott Israels, zu allen Weggeführten, die ich von Jerusalem nach Babel habe wegführen lassen: Baut Häuser und wohnt darin; pflanzt Gärten und esst ihre Früchte; nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter, nehmt für eure Söhne Frauen und gebt eure Töchter Männern, dass sie Söhne und Töchter gebären; mehrt euch dort, dass ihr nicht weniger werdet. Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum HERRN; denn wenn’s ihr wohlgeht, so geht‘s euch auch wohl.
„Suchet der Stadt Bestes und betet für sie zum HERRN! Denn wenn‘s ihr wohl geht, geht’s auch Euch wohl!“
So schreibt das der Prophet Jeremia irgendwann im 6. Jahrhundert vor Christus.
Man muss sich noch einmal vor Augen halten, was das heißt: Denn Jeremia schreibt das an die Exilierten in Babylon: „Baut Häuser, pflanzt Gärten, esst ihre Früchte!“ – das heißt: „Baut Häuser und pflanzt Gärten in der Fremde!“ – „Richtet Euch ein in der Fremde!“ – „Stellt Euch ein auf eine längere Zeit im Exil!“
Babylon. Babylon Berlin. Berlin gehört zu den Städten, in denen die meisten fremd sind. Fast alle sind irgendwann zugezogen. Alle haben sie ihre Häuser und Gärten in der Fremde gebaut. Und wenn sie einmal heimisch geworden sind, dann ändert sich die Stadt. Exil in der eigenen Stadt.
Für die Kirchen gilt das umso mehr. Denn für Christen muss die Welt immer ein wenig fremd bleiben:
Ich bin ein Gast auf Erden und hab hier keinen Stand.
Der Himmel soll mir werden, da ist mein Vaterland.
So schreibt das Paul Gerhardt und meint die himmlische Heimat. Solange baut man Kirchen, Häuser und Gärten in der Fremde. Für diese Fremde sollen wir das Beste suchen und für sie beten – in der Kirche, die schon stand, als die Stadt noch nicht war und die noch stand, als die Stadt nicht mehr war.
Orgel – Jürgen Kurz
Präparierter Flügel – Michael Busch
Andacht – Pfarrer Hannes Langbein
Lesung – Thomas Martin