Das Berlin, das ich meine (II)/
Wir biegen um die Ecke am türkischen Rundumdieuhr. Draußen sind vom letzten Sommer noch die Korbstühle aus Plaste gestapelt, bis zu zehn übereinander. Auf einem Stapel mittlerer Höhe schwebt eine Frau. Sie hält ihr Gesicht in die Abendsonne, sie scheint dort oben klein, fast zwergenhaft zu sein, die Beine baumeln, sie raucht, trägt eine Sonnenbrille und einen Pelz aus Kunststoff.
Sie redet laut und lacht, die Sprache klingt Italienisch. Jedenfalls sagen wir das dem Kind, das danach fragt, als wir an ihr auf den Stühlen vorbeilaufen. Es könnte natürlich auch Spanisch gewesen sein, Russisch garantiert jedenfalls nicht. Die Frau winkt und ein Rauchring steigt in die Luft wie ein zerrissener Rettungsring.
Es fängt zu regnen an, das Kind und ich laufen weiter. Genaugenommen läuft nur der Junge weiter, ich sehe ihm nach, er biegt um die Ecke, aus der im Gegenlauf ein gespenstisch dünnes Mädchen auftaucht, das auf den Sparkassenautomaten neben dem sinnlosen Laden zusteuert.
„Die ist aber hübsch gemacht“, sagt Serjoscha.
Das Mädchen, das außer sich zum Teil ein Junge ist, steht auf Plateauboots 25 cm, trägt weiße Strümpfe bis übers Knie, schwarze Straps mit Hosenträgerclips, schwarzweißgestreiften Miniminirock mit Schlitzen, weiße Bluse, schwarze Lederminijacke, schwarze Zöpfe rechts und links vom weißgeschminkten Gesicht und den schwarzgemalten Lippen. Zwischen Grufti, Punk und Weltfestspiele 1973 alles dabei, zweiundzwanzig Reißverschlüsse, Piercings am Kopf und Tattoos, von denen die am Arm, mit dem sie sich am Automaten abstützt, zerlaufen sind.
Neben der Dünnen der Junge, die Hände auf den Rücken gelegt, reicht ihr bis zur Hüfte, staunt sie an. Sie lacht und zeigt ihm ihre Karte.
Ich dreh mich um, du bist nicht mehr zu sehen. Du bist stehengeblieben, um die Zwergin auf dem Stuhlstapel zu fotografieren, die inzwischen auch unten posiert. Alles Versonnene ist fort, sie läuft auf der Ecke gegenüber vom Märchenbrunnen hin und her vor dem Turetzky Shop, wie du ihn nennst, und erzählt.
Der Junge steht vor dem Geldautomaten steht und sieht zu, wie die tätowierte Hand der Dünnen die Scheine aus dem Schlitz zieht. Er hockt sich daneben und spielt mit, erst dachte ich Münzen, es sind aber Steine, die er betrachtet und in die Hosentasche steckt.
Von hinten aus der Greifswalder kommt jetzt die Obdachlose, die wir „unsere“ oder „Ohnehaus“ nennen, weil wir sie seit drei Jahren, seitdem sie die Hausnummern unserer Straße abwohnt, kennen und grüßen. Sie ist schlechter Laune und flucht vor sich hin, am rechten Arm schlenkert eine Dreiliterflasche Three-Sixty Regionalwodka, über der linken Schulter in eine Decke gerollt irgendwas. Plünnen. Heute stampft sie. Serjoscha winkt ihr zu, sie sieht nicht hin.
Die Dünne am Bankautomaten dreht sich um und kriegt die volle Ladung Flüche von der Obdachlosen, bleibt aber cool: „Wat willste?!“ – „Fotze!“ – „Selber Fotze …“ Kurzes Flackern: Wer schlägt als erste zu?
Die ohne Haus stampft weiter. Ohnehaus kommt aus dem Russischen, wo obdachlos besdomnij heißt, wo auch der Junge herkommt, vor sechs Jahren geboren auf der Insel Sachalin. Seit anderthalb Jahren lebt er hier, spricht besser Deutsch als Russisch.
„Was hat sie gesagt?“ – „Hab ich auch nicht verstanden.“ – „Warum ist sie so sauer?“ – „Frag sie doch, nein, frag sie lieber nicht.“
Die Dünne auf den Plateausohlen sieht Ohnehaus nach und entscheidet sich für die Haltestelle gegenüber. Der Junge tappt weiter Richtung Nummer 10. Wo die Baustelle ist, macht er Halt und setzt sich hin. Jetzt kommst du von der Fotosession mit der italienischen Zwergin zurück, du nickst ihr zu, ich höre sie reden und sehe, wie sie dir was auf dem Handy zeigt.
Serjoscha hockt in der Einfahrt, öffnet die Hand und zeigt zwei glänzende Splitter einer Ofenkachel, gelb, glasiert und bröselig, wie ein Mosaik aus Pompeij. An einem leeren Sonntagabend zu dritt.