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Tag 76

Großpolitisch …

Ist kein Titel für ein großes Gedicht, zwangsläufig jedenfalls nicht.

Selbst dann nicht, wenn der Titel auftaucht im Traum, gesprochen

Von der Stimme meiner Großmutter. „Aber die Lage … hat sich geändert“

Höre ich noch. Zahnschmerz unten links. „Nicht wahr“, ist eine Redewendung

Die bis zuletzt meine Großmutter gebrauchte. Sie lebt seit vierzig Jahren nicht mehr.

Vor vierzig Jahren war der „Weltfriede“ bedroht bis aufs äußerste. Heute

Haben wir Ruhe im Vergleich dazu. Die Welt ist um einiges unübersichtlich

„Verwunderlich“ geworden, hätte meine Großmutter gesagt, Mutter

Meines Vaters, der mit meiner Mutter, seiner Frau, seit mehr als sechzig Jahren

Relativ betrachtet, friedlich lebt. Übersichtlich, könnte man sagen. Zahnschmerz.

Niemand meiner Vorfahren lebte je in Berlin. Die Nachkommen wandern ab.

Mein Sohn hat die westliche Ostseeküste gewählt, die Töchter träumen

Von Eigenheimen in Randlage, nach dem Vorbild meiner Schwester, die Berlin

Von außen betrachtet. Ich versuche täglich diese Stadt von außen anzusehen.

Oft genug vergebens, nur gelegentlich fällt mir was Neuartiges ein. Ein Ansatz

Von Betrachtung, wie ihn noch niemand (meines Wissens) wahrgenommen hat.

Wie gesagt: vergebens oft genug. Meine Instrumente sind beschränkt beziehungsweise

Selbstgemacht. Begriffe finden, das heißt Segel setzen. Und den Wind der Geschichte einfangen

Meint Dr. Walter Benjamin. Die Kunst, Segel setzen zu können … Lee von Luv

Unterscheiden, ist auch eine Kunst. Eine Wasserkunst. „Der Begriff des Fortschritts

Ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren.“ (Schon passiert, schon passiert.)

„Daß es ‚so weiter‘ geht, ist die Katastrophe.“ (Seh ich auch so, ganz genau!)

Ein Autodidakt in metropol-urbaner Analyse, kein Brotberuf. Im Hof

Tanzt ein Blatt oder eine Ratte, etwas pfeift, das Fenster klappert, der Hund gähnt.

Meine Großmutter verlor meinen Großvater im Krieg. Er blieb im Feld, wie sie das nannte

Vierzig Jahre hat sie gewartet auf ihn. Es ist vier Uhr am Morgen, der Hund

Streift durch die Wohnung, er friert. Er ist andere Temperaturen gewöhnt. Meine Frau

Hat ihn von der Insel Sachalin nach Berlin mitgebracht, sie ist meine vierte

Die Frau, meine ich. In der Nacht ist es friedlich. Die Nachrichten sind es nicht. Jazz.

Ich mache mir einen Tee und vergesse den Whisky (Irish) dazu nicht. Zahnschmerz

Zunehmend. Das Herz fängt zu springen an. Warum ist keine Frage. Wie lange noch …

Ich versuche Fragen zu mir selbst grundsätzlich zu vermeiden, zunehmend.

Ich stelle mir das Leben nach einem Schlaganfall vor, und gehe zurück in unser Bett.

Ich habe kein Licht angemacht, kalt ist es auch. Der Hund stöhnt im Schlaf.

Gestern kam die Stromrechnung über uns: zweitausend mehr als letztes Jahr, das vergleichsweise

Übersichtlich war, bevor meine Frau, die Kinder, der Hund und die Katze

Hier einsiedelten. Meine Tochter, die dritte, zog zu ihrer Mutter hinüber. Für zwei Menschen

Ist die Wohnung zu groß, für vier plus zwei Tiere ist sie zu klein. Kinder

Hab ich jetzt sieben – vier ich, drei meine Frau. Letzte Woche hat mein Sohn

Der erste, sein zweites Kind bekommen, der Name, der des Enkels, ist Karl.

Meine Schwiegertochter, die ich offiziell und eigentlich überhaupt nie so nenne

Ist doppelt so alt wie mein Sohn. Sie, seine Frau, ist so alt wie meine, zwanzig

Jahre jünger als ich. Französische Verhältnisse, könnte meine Großmutter gesagt haben

In Anspielung auf – auf wen verstand ich nie. Sie war eine steinalte Frau von Humor.

„Ein Leben voll Arbeit, die Hände krumm und immer noch leer.“ Übersichtlich.

(Für Irina, Elli, Ingrid und die anderen)

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