Maria
Sie hob die Taschen auf und ging. Dann kam das Erinnern.
Wieviele sie geboren hatte, wußte sie lange nicht mehr
Als sie die Nachricht bekam vom Tod ihres ersten, ganz in der Nähe
Im Zentrum, erledigt mit drei Hammerschlägen.
Daß er ein krankes Herz hatte, fiel ihr jetzt wieder ein.
Wie oft entbunden von wievielen, wußte sie nicht, sie zählte sie
Das jüngste wiegend auf dem Schoß, mit beiden Händen.
Väter hatte sie zu zählen aufgehört, nur den einen
Sah sie deutlich: weißbärtig und träg, lange her.
Als sie am Nachmittag (seines Todes) das Kleine im Tuch vor der Brust
Die S-Bahn nahm, strömten die Leute wie gewohnt ihr entgegen
Daß sie Mühe hatte, die Kreuzung zu finden. Alles hatte sich so sehr verändert.
Wie noch wissen, wo der Platz gewesen war? Die Gegend
Kannte sie vom Hörensagen, starke Geschichten
Die öfter vom Sohn, dem ältesten, erzählten, aberwitziges
Das ihr Angst machte im Herzen. Alles, was sie hatte
Hatte Platz in einem Einkaufswagen, den schob sie vor sich her
Gut, sich an etwas halten zu können. Freitags war es kalt
Wie immer, die Leute hetzten in ihr Wochenende, auch
Wenn die Pest umging das zweite Jahr. Sie sahen gleich aus
Fast alle. Wie ihr Sohn gepredigt hatte, so oder so ähnlich.
Sie wollte nicht bei allen andern liegen, hier, die ihre Becher
Vor den Türen ausstellten. Sie nicht. Manche schienen sie
Zu kennen, eine Zeitlang, keine Ahnung woher. Sogar ihren Namen
Sprachen sie aus, und mancher waren unter denen war einmal
Ihr Kind gewesen, Mann oder Frau, die sich nun schämten
Sich nicht zu erkennen gaben. Alt wie sie war, mit dem Kindlein im Arm
Konnte sie kaum die, von der sie redeten, sein. Man wußte ja nicht
Welche Krankheiten sie hatte, welche Sprache sie sprach
Vor sich hin, und sie stank und war schmutzig, daß es spät für Mitleid war.
Trotzdem, als es Nacht wurde über dem Platz, auf dem nichts mehr
Vom Sterben ihres ersten zu erkennen war, unter all dem Beiwerk
Den Kreuzen, Blütenblättern, Zweigen, Kerzen und Tafeln ringsum
Als sie sich die Treppen hoch und runter schleppte, fühlte sie, anders
Als sonst, in ihrer Müdigkeit etwas, das sie früher Stolz genannt hätte
Als sie den Namen hörte, wieder und wieder, den sie ihm gegeben hatte
Jahre, Jahrzehnte zuvor, als die Glocken geschrien hatten wie jetzt.