Tessenows Weltschacht/
„Gefangenes Licht“, ist auch eine Definition von Stadt. Und es müssen nicht Feuer oder Strom- oder Gaslampen oder Leuchtreklamen sein, das kalte Vorfrühlingslicht reicht hin. Die schneidenden und ausgeschnittenen Kontraste, die ausgreifenden Schatten, Eindeutigkeit der Farben, die wir sonst von Küsten kennen, Seelicht in der Stadt, Ostseelicht finden wir hier.
Als der Architekt Tessenow 1931 die Neue Wache vom Telegraphengebäude der Reichswehr zum Mahnmal der Weltkriegsgefallenen umbaute, entkernte er den Quader vollkommen und durchbohrte ihn. Ein kreisförmiger Durchbruch im Dach, zweieinhalb Meter im Durchmesser, sollte mit einem Schacht, der, bis kein Grund zu sehen war, in die Erde reichte, fortgeführt werden. Angenommen, der Schacht wäre komplett angelegt worden, der Planet durchbohrt, der Mittelpunkt der Erde 20.000 Meilen unter dem Meer durchdrungen, wäre der antipodische Ausgang des Schachts ein nasser Punkt im Südpazifik. Der dann, wie der Planet sich dreht, allmählich auslaufen würde, Meerwasser durch die Straßen Berlins. Klimatisch keine ganz ferne Vorstellung. Statt Tessenows Weltschacht kam dann ein Würfel aus schwarzem Granit, andere Quellen sprechen Basalt, unter das Loch in der Decke, auf dem der silberne Eichenlaubkranz der Sieger lag. Aber es gab und gibt hier keine Sieger.
Ich stand als Kind manchmal davor, wie die Kinder zwei Jahrhunderte durch standen, Soldaten zusehen beim Marschieren, Beinewerfen, Salutieren, Präsentieren, Stiefelknallen, und man konnte es, so seltsam sich das anhört, bis vor kurzem noch sehen; bis vor 31 Jahren noch. Damals lag ein Glaswürfel drin, der eine Ewige Flamme umschloss, die allein Grund für Phantasien bot, abgesehen davon, dass unter ihr die Erde unbekannter Soldaten und KZ-Häftlinge liegen sollte. Ich dachte lange nach, wie man wissen konnte, dass Soldat und Häftling unbekannt waren, und was unbekannt eigentlich bedeutete. Und ich erinnere mich an diese Wachwechsel, für die man Geduld aufbringen musste. Sie begannen jedesmal von einer Wachstube des Museums nebenan aus. Museum für Deutsche Geschichte, heute Deutsches Historisches Museum. Ein historischer Zug, ein bewegtes Ausstellungsstück, ein Exponat mit Lebenden, die zwischen Wache und Museum marschierten, keine hundert Meter zum Schinkelbau rüber, sich aufstellten, die anderen ablösten alle paar Stunden, jede Stunde, ich weiß es nicht mehr.
Faszinierend neben den glänzenden Stiefeln, die selbst schon Mysterium waren, wenn das Kind davor stand und sich spiegelte da drin, war der silberne Knopf in der Steinplatte, auf der der Soldat seine Wachzeit lang stand. Es hieß, wenn Gefahr wäre, wenn ein Kind zu nahe käme oder ein Feind, müsste der Soldat nur mit dem Fuß, der eigentlich auch aus Stein war, unverrückbar, selbst wenn die Welt aufhört, sich zu drehen, ganz leicht an den Knopf rühren und ein Stoßtrupp prallte aus dem Museum für Geschichte und nahm das störende Kind in Gewahrsam oder erschoss den Feind, denn Gewehre hatten sie alle. Aber hier, hier durfte niemand stören. Außer ein sowjetischer Soldat. Oder ein amerikanischer, ein britischer, ein französischer. Manchmal kamen sie für ein Gruppenfoto zusammen und der deutsche, der DDR-, der NVA-Soldat, durfte nicht zucken und nicht rucken. Das war alles sehr selten und gesehen hab ich es nie. Wenn ich dort war, gab es nur die zwei Soldaten und alle Stunden einen Kommandeur.
Tessenows Schacht ist ein haltbares Bild, das Heiner Müllers Feststellung, dass die Abwesenheit Gottes seine Macht ist, in genauso haltbare Worte bündelt. Der durch das Wachhaus Unter den Linden ziehende Weltschacht zentriert unsere Unfähigkeit Gedenken mit Denken zu vereinbaren durch seine Abwesenheit wie eine kosmische Achse. Anstelle des die Erde durchwehenden Nichts steckt wie ein Stöpsel im Abfluss eine Bronze, die aus einer kaum 40 cm hohen zarten Pietà das politische Totengedenken in Übergröße hämmert, das jedem nächsten Waffengang auf die Sprünge hilft. Man kann daran denken, muss aber nicht.
Die Tore der Wache sind, obwohl der Raum dauerhaft durchlüftet ist wie kein anderer der Stadt, ist er wegen des Risikos der Infektion geschlossen. Sieht man durch die Gitter bei Morgenlicht in die Grabkammer, erkennt man eine Turrellmäßige Intervention in Zeit und Raum und Denken. Klarer kann sich kein Schatten und kein Licht im Dialog auf Stein abbilden, minimaler kaum ein Lichtspiel sein.