Sehnsucht ist nicht nur die Sucht des sich-nach-etwas-Sehnens, sie auch eine Sucht des Sehnens an sich. Das wird selten bemerkt, und spielt sich zumeist in Ausnahmesituationen nach vorn. Heute morgen im Radio „Schneeinterviews“ auf der Straße, eine fröhliche Frau im Deutschlandfunk erzählt, sie sei 45 und dies ihr erster richtiger Winter: Mit Schnee! Alles Weiß! Man kann so viele Fotos machen, die schönsten Statusbilder, die Kinder freun sich und die Hunde auch. Und wer weiß: „Vielleicht kommt das ja nie wieder“.
„Städtisches Regenwetter mit seiner ganzen durchtriebenen Lockung, in frühe Kinderjahre sich zurückzuträumen, ist nur dem Kind einer Großstadt verständlich. Regen hält überall mehr verborgen, macht Tage nicht nur grau sondern ebenmäßig.“ Benjamins Passagennotiz in den Schnee von heute übersetzt könnte heißen: „Nur uns ist die Sehnsucht nach Schnee und Schneefall ganz verständlich. Schnee macht nicht nur die Tage ebenmäßig, auch Vergangenheit und Gegenwart gleichermaßen, er breitet sich, wie das Laken einer noch zu verlierenden Unschuld, vor der Zukunft aus.“ Kaum anders lässt sich unsre Freude, verstehen, wenn wir Kristalle und Flocken bestaunen und ihnen entgegenjuchzen, als ob Frau Holle Koks vom Himmel rieseln ließe.
Jede Sehnsucht ist ein Drängen zum Besonderen, hin zu dem, was wir nicht haben. Nach Normalität – gesicherten Rahmen, regelmäßig wiederkehrenden Abläufen, die auch nichts anderes als Sicherheit versprechen – sehnen sich jene, denen die „Krankheit schmerzlichen Verlangens“ (Grimm) zugeschrieben wurde. Und wir alle kennen sie. Und wenn wir es uns eingestehen, suchen wir das eine vor allem: Ruhe. Ein Verständnis von Zeit, das sich jenseits von „Frist“ befindet. Vielleicht muss man lernen, auf Sicht zu fahren, wie über Glatteis, wie durch schwankende Zahlen.
Erst wenn wir uns mit den Momenten des Stillstand arrangieren, von denen her wir dem Fluss der Dinge zusehen können, der ein reißendes Schmutzwasser ist, und sich speist aus dem Schnee, der jetzt so friedlich fällt, das Ordinäre, Trübe, Triste dämpft und wattiert mit seinem neutralisierendem Weiß, erst dann sehn wir die Dinge, gelöst von ihren Funktionszusammenhängen, frei.
Nicht jeder Tag muss der letzte, aber jeder kann der erste sein.