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Tag 53

Zwischen REWE und BUDNI („Dein Drogeriemarkt seit 1912“, was ich nicht wusste) in der Schönhauser tanzt ein Mann. Bevor man ihn sieht, hört man ihn, das Geräusch. Es ist kein Gesang, kein Sprechen, sind nicht einmal Worte, keine eindeutig auszumachende Sprache. Eine Melange aus Französisch, Italienisch, Spanisch, Esperanto vielleicht, das er bellt jault grölt brüllt heult blökt knurrt grölt grunzt aufruft, egal wie, eindeutig männlich jedenfalls, sagt die Quelle des Geräuschs.

 

Es ist dunkel und nur der wirbelnde Schatten des Tänzers zu sehen und der Fluss der ihm ausweichenden Passanten. Ein Mädchen, weiße Hosen, schwarze Jacke, weiße Corona-Maske, blondes Haar, springt zur Seite als er einen Arm hochwirft. Geldscheine, Fetzen von irgendwas fliegen. Ich gehe, bepackt mit den Einkaufstaschen auf ihn zu, die Verkäuferinnen aus dem Drugstore stehen im Eingang und sehen dem Tanzenden zu, das heißt, sie suchen nach der Quelle des Geräuschs. Von der Pizzeria DUE FORNI kommen Boten, beladen mit getürmten Pizzaschachteln, die Treppe runter und stoßen auf die Quelle des Geräuschs. Wieder ein Brüllen. Die Boten spritzen auseinander wie – schwer zu sagen wie, sie schnappen ihre Räder und fahren, wohin sie müssen. OH FUCK, ruft jemand aus der Ferne.

 

Die Brille ist beschlagen, ich stell die Taschen ab, zieh die Maske vom Gesicht, und seh jetzt ihn, die Quelle des Geräuschs, der schon direkt neben mir tanzt beziehungsweise torkelt. Er trägt eine Wollmütze, scheint jung, um die 30 zu sein, hat einen Bart und brüllt den Himmel an. Und nicht anders als erleuchtet ist sein, ja, wirklich, Lachen, sein Gelächter zu bezeichnen.

 

Als ich die neben ihm verstreut liegenden Papiere sehe, die offenbar Kredit- oder Kranken- oder Visitenkarten sind und Reste eines zerfetzten Portemonnaies, sehe ich auch seine in den Knien hängende Hose, seinen enorm großen, unnatürlich deformierten Schwanz. Klar, dass man da nicht lange hingucken kann, aber der Schock braucht auch seine Zeit. Es scheint nicht so, dass er drauf aus ist, die Blicke der Vorübergehenden genau dahin zu lenken, die meisten nehmen den tanzenden Schwanz ohnehin nicht wahr, und wer es tut, springt wie das Mädchen zur Seite. Sonst sind da nur die Verkäuferinnen im BUDNI-Eingang, von denen sich auch keine rührt.

 

Es ist natürlich surreal, im Dunkeln, Schneeregen, der Berufsverkehr, Corona, das alles, und während ich meine Taschen weiterschleppe, muss ich an Moskau denken um diese Zeit, wo ein an der Kreuzung tanzendes Geschlechtsteil keine 5 Minuten hätte, bis die Orks von OMON ihn zusammenschlagen, keine 20 Minuten bis zur Psychiatrie und keine 24 Stunden bis zur Lagerhaft. Ich geh zur Kollwitzstraße hoch, hör ihn immer noch, dann sind es nur noch Vokale. Seltsamer Einkauf. An der Ecke zur Metzer staut sich die nächste Querdenker-Versammlung vor dem SCOTCH & SOFA, sie renken sich die Köpfe aus nach der Quelle des Geräuschs.

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