Die Frau erzählt:
Während die Welt außerhalb Russlands das Verhältnis der Regierung zu Nawalnyi in mythisch überspannten Bögen zwischen der Farbe von Putins Badehose, altrussischen Volksmärchen und Sanktionen diskutiert, lebt Moskau sein eigenes surreales Leben.
Heute morgen wachte meine ältere Tochter auf, kam in die Küche und sah vor dem Fenster einen toten Mann. Es war acht Uhr Moskauer Zeit. Ich muß das hinzufügen, meine Tochter lebt dort, am nordwestlichen Rand dieser gerade sehr verschneiten großen Stadt, nicht weit vom Flughafen Scheremetjewo. Als erstes kam der Krankenwagen. Zwei Sanitäter packten die Leiche in eine schwarze Plastiktüte und entfernten sich vom Weg. Im morgendlichen Berufsverkehr nehmen viele Leute die Abkürzung über die Wiese vor unserem Haus. Die Sanitäter passten auf, dass niemand dem Sack zu nahe kam. Sie standen mit dem Rücken zum Fenster, und weil unsere Wohnung im Erdgeschoß liegt, wurde es vorübergehend dunkel. Als nächstes kam ein junges Paar. Die Frau weinte und rauchte ständig. Der Mann rauchte auch und weinte nicht. Dann kam die Polizei. Und meine Tochter verließ das Haus durch den Eingang auf der anderen Seite, um eine Prüfung an der mathematischen Fakultät abzulegen. Sie schickte mir ein Foto von dem schwarzen Sack, die Füße in schwarzen Schuhen stachen heraus. Zwischen Sack und Hauswand war ein rotweißes Band gespannt.
Das Bild hat mich an eine andere Leiche erinnert. Ich war in der 11. Klasse, trank meinen Tee in der Küche und schaute zum Fenster. Plötzlich fiel ein Mann vorbei und krachte gegen den Asphalt vier Stock tiefer. Als ich zum Fenster ging und hinaussah, lag sein Kopf in einem Blutfleck, groß und glänzend wie der Heiligenschein auf einer Ikone. Ich packte meinen Rucksack und ging zur Schule. Als ich auf der Straße an ihm vorbeiging, fiel mir der schmutzige Schnee auf. Das war in Juschno-Sachalinsk vor zwanzig Jahren.
Der Mann erzählt:
Vorgestern traf ich zwischen Bahnhof Zoo und Ernst-Reuter-Platz auf zwei Obdachlose, die ihr Bett vor einem leeren Bürogebäude aufschlugen, und sah am selben Abend auf dem Alexanderplatz einen, den zwei Sanitäter in eine goldene Decke hüllten. Ich kam aus dem Bahnhof und dachte erst an Dreharbeiten, der goldene Schein der Thermodecke strahlte und brach sich in den Gläsern des Fahrstuhlschachts zur U8, vor dem der Obdachlose saß. Gestern entdeckte ich, dass der meist auf Englisch fluchende Obdachlose am Spielplatz Marienburger Straße, den die Zugezogenen vertraulich „die Marie“ nennen, einen grünen hölzernen Geräteschuppen als Wetterhaus bekommen hat, da liegt er jetzt drinnen auf etwas, das Tisch und Bett und Bank zugleich ist. Die Leute kommen vorbei und legen Essen ab in solchen Mengen, dass die Gaben aus der Tür quellen und der Obdachlose in seinem Essen liegt wie in einer Performance von Greenaway. Und heute morgen habe ich nach längerer Zeit die Frau ohne Haus, wie unser Sohn sie nennt, die ewig lachende, die die Greifswalder Straße bewohnt, wieder getroffen. Ihrem Gesicht war anzusehen, dass es letzte Nacht frisch gewesen sein muß. Insgesamt soll es, vermeldet das Bundesamt für Statistik, in Deutschland rund 40.000 Obdachlose geben, in Berlin, nach der Zählung vom letzten Jahr, 1.976.