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Tag 39

Ein Lied vom Gehen/

 

Wir werden die Zeit, in der es nicht selbstverständlich war, einen Ausflug zu machen, so schnell nicht vergessen. Kann sein, dass sie uns genau deswegen in Erinnerung bleiben wird. Heute war der Drang nach irgendetwas anderem so heftig, dass wir vor den Abenteuern zuhause nach draußen ausgewichen sind und einfach – wir wollten einfach nur spazieren. Und dann saßen wir in der S-Bahn und dann standen wir auf der Beusselbrücke, aber der TXL-Bus fuhr nicht mehr. Und noch nicht wieder. Wir hatten irgendwo gelesen, er wär als Impfexpress schon unterwegs, war er aber nicht. Dann liefen wir los, mal sehen, was in Tegel so läuft. Oder fliegt, denn mir fiel ein, noch vorgestern am Horizont hinten in Pankow ein Flugzeug in die Stadt sinken gesehen zu haben, und wo hätte das aufsetzen sollen als in Tegel? Der Weg war nicht weniger wichtig als das Ziel, wir wollten nur laufen, nichts sonst.

 

Wir stapften los, das Kind tanzte vornweg, und in dieser schwer zu definierenden Jahreszeit zwischen Herbst, Winter und Frühling, diesem endlosen November, wirkte, was an Stadtbild zu sehen war, besonders bunt. Was kann grauer sein als dieser Himmel gegen den die Speicher am Westhafen wie ein Rummelplatz leuchten?

 

Am Westhafenkanal vor den Containertürmen, die im Nebel wie Pastellfarben im Tuschkasten zerlaufen, stießen wir auf einen fehlfarbenen Schrottberg, und das ganze Flussufer strahlte für den Moment warm wie ein Mosaik vom Ischtar-Tor im geheizten Pergamon. Was vor den Schornsteinen des Vattenfall-Kraftwerks besonders bildstark wirkt. Es ist klar, dass man für solche Übersetzung dankbar ist, das Museum ist uns mehrfach verschlossen: wegen jahrzehntelanger Renovierung, wegen Corona, und wegen der Kolonialismusdebatte macht es vielleicht auch nie wieder auf. Aber jetzt, jetzt waren der Müll, die Container, Hafenbecken und Kanal, die kahlen Äste und das Gras in ein derart barbarisch- burschikosen Ornament gefasst, dass wir in die Knie hätten gehen können. Wir blieben aber stehen, schlotterten vor uns hin und ließen uns von dem, was wir sahen, sozusagen liebevoll umrahmen. Und das Kind tanzte am Ufer vorweg.

 

Es wurde dunkel, ein Streifen aus vermatschtem Laub und gelbem Mulch längs des Uferpfads begann vor den Hausbooten zu leuchten. In der Niederung, wo an der Abzweigung das Schifffahrtsamt, das jetzt ein Fotostudio ist, wie eine Burg über dem Achterwasser thront, glomm zwischen den Skeletten halbversunkener Hausboote, das Leben, tatsächlich das Leben, wie – wir fanden keinen Vergleich. Rauch floss über die Boote, auf manchen standen Stühle, Tische, sogar Blumentöpfe. Es sah aus wie eine Illustration für „Der Wind in den Weiden“ hundert oder tausend Jahre später. Alle Helden sind tot und versteinert und Fremde haben ihre heruntergekommenen Flusshäuser besetzt.

 

Das Kind schmiss ein paar Steine ins Wasser, eine Dame in Gummistiefeln kam aus dem schwimmenden Haus, das wir für tot gehalten hatten. Sie pflegte die Wege zwischen den Booten und ein paar Winterbeete pflegte sie auch. Inzwischen fuhr ein Bus nach dem anderen oben auf der Straße vorbei, sonst aber nichts. Aus dem Nebel links von uns stach das Wasserschloss der Strafanstalt. Am Zaun um das Gefängnis hing ziemlich mitgenommen ein Schild, übergroß: „Würden Sie einem Mörder Guten Morgen sagen?“ Während ich noch lange über diese Idee nachdachte, kamen wir immer am Fluss lang, an der Hinrichtungsgedenkstätte Plötzensee vorbei, nach TXL.

 

Das Kind war vorneweg getanzt und schon da. Der Flughafen war zu, an der Anzeigetafel, an der wir in den Jahren mehr als einmal lesen konnten, dass wir zu spät waren, war Schluß. Die Durchfahrt war gesichert wie Tegel der Knast. Zwei nette, sehr kräftige und sehr junge Männer, die von Natur und auch Beruf aus sicher kein Problem damit gehabt hätten, Mördern Guten Morgen zu sagen, baten uns höflich, zu gehen und noch höflicher, keine Fotos zu machen. Sie waren in schwarze Uniformen gehüllt, hatten schwarze Mützen auf und schwarze Tücher vor dem Mund, und ihr Akzent war – ich mußte wieder an das Ischtar-Tor denken. Sie erklärten uns, dass das Gelände erst im Dezember diesen Jahres, frühestens, eröffnet wird. Wahrscheinlich aber auch erst 22, 23, und wozu und was dann sein wird, weiß sowieso keiner, wir kriegen jeden Tag Befehl, dreimal, viermal, immer anders, sagte der eine, und „bizarr“ sagte der andere, es klang jedenfalls so. TXL gehört dem Virus offenbar. Und weil kein Weiterkommen war, der Horizont nach Westen praktisch zu, es wurde auch schon dunkel, drehten wir um.

 

Das Kind tanzte vornweg auf etwas bunt zwischen den Bäumen Leuchtendes zu. „Infopunkt“ stand da, „Die Zukunft von Berlin TXL“, und erzählte hinter verschlossenen Türen durch die Fenster auf Bildschirmen von der unheimlichen synthetischen Zukunft der Gegend. Hier hatte Künstliche Intelligenz eindeutig gewonnen. Wir drehten auch hier wieder um, gingen zur Bushaltestelle rüber, pflückten im Dunkeln ein paar Büschel Silbertaler, weil man die so gut sieht, und überlegten, was wir damit machen würden. Das rote Wartehäuschen mit dem grüngelben „Autobus-H“ sah aus wie ein liegengelassenes Stadtmöbel einer früheren und sehr viel lebendigeren Zukunft, auch wenn wir die heute brutalistisch nennen. Wir setzten unsre Masken auf und stiegen ein, das Kind vorneweg.

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