Benjamins bekanntestes Bild neben dem vom Engel der Geschichte ist der vom „Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse“. Der Zug, von dem die Rede ist, ist der an der Lokomotive der Geschichte, der Revolution, hängende. Leicht zu sagen, dass der Zug seit längerem auf dem Abstellgleis steht. Mindestens eine Generation, der schon das Wort „Notbremse“ nicht mehr nichts sagt, ist nachgekommen. Die manuell zu ziehende Notbremse ist ein Verkehrsrelikt, das im automatisierten Fahren, ob auf Straßen oder Schienen oder in der Luft, so obsolet sein wird wie jede Unterbrechung überhaupt. Was sie bedeutet, erfahren wir für gewöhnlich neu nur im Katastrophenfall.
Eine Notiz aus dem Konvolut zum Begriff der Geschichte wirft ein leichtes, spätes Licht auf uns heute: „Die klassenlose Gesellschaft ist nicht das Endziel des Fortschritts in der Geschichte sondern dessen so oft mißglückte, endlich bewerkstelligte Unterbrechung.“ Dieses Licht, das eher von verborgenem Kerzenschein als von Flutscheinwerfer kommen muß, sagt weniger als es fragt.
Was ist das Endziel der Geschichte, gesetzt, sie läßt sich anhand der Maßgaben des Fortschritts messen? Was ist Fortschritt, wenn er nicht auf Rettung (mit Benjamin: Erlösung) ausgelegt ist? Und was, falls die klassenlose Phase kommen sollte, kommt danach? Sind wir es: das Danach? Ich hatte meine Kindheit und noch Jugend in der Epoche, die im östlichen Berlin klassenlos war. Sollte sie endliche bewerkstelligte Unterbrechung gewesen sein, und sollte es seitdem, seit dreißig Jahren weitergehen, worauf läuft es hinaus? Seltsam, solche Fragen aufgeworfen zu sehen, ohne visionär ausgerichtete (ideologische) Handhabe. Mit hängenden Armen steht man angesichts von Thesen, wie Benjamin sie hinterlassen hat, achselzuckend im „Was solls?“.
Es gibt Leute, die konkret damit beworfen sind. Denen die Lokomotive nur die Straße von morgens bis Mitternacht ist und die Notbremse keine Unterbrechung sondern Finale. Was heißt fortschreiten für die Obdachlose in der Greifswalder Straße als von Tag zu Tag? Und was für sie Unterbrechung? Ein Dach? Braucht sie es noch, wenn sie auf der leeren Bank neben dem leeren Hotel „Leonardo Royal“ in ihrem Tütenanwesen hockt? Schon eine Sprache dafür zu finden, ist eine Herausforderung gegen die das große Ziel, das momentan unscharf am Horizont oder am Wegrand umhergeistert, nur Halloween ist. Und nicht weil im Rücken der Frau auf der Bank der Turm der Bartholomäuskirche in den farblosen Himmel sticht geht vom Glanz ihres ins Innere gerichteten Lächelns etwas aus, das wir mit Benjamin diese „schwache messianische Kraft“ nennen können, „an welche die Vergangenheit Anspruch hat. Billig“, sagt Benjamin, „ist dieser Anspruch nicht abzufertigen.“ Im Gegenteil, er ist am teuersten. Die wenigsten können ihn leisten.