Benjamins Schildkröte erscheint im Passagenwerk als Mobile einer Bewegung, die Traum und Erzählung in einem ist. Wir können die Bewegung Flanage, die Geste des Flanierens nennen oder gleich, im Sitzen, Reflexion. Ob Achilles oder du, wer die Schildkröte am Band führt, bremst sich aus und versetzt sich in eine Ruheform, die die Potentiale des Stillstands wahrzunehmen möglich macht.
Wir können die Schildkröte zum Wappentier der Kontemplation erheben, wir wissen sogar, wo sie wohnt. Sie überwintert die Jahrzehnte, Jahrhunderte und uns in einem Pfuhl im Friedrichshain. Als wir Kinder waren, sahen wir sie, alle paar Jahre, wenn der Ententeich ausgepumpt wurde, und jeder, der seine dort aus Langeweile oder sonst einem Grund ausgesetzt hatte, fand sie oder irgendeine wieder. Ich selbst hab drei gefunden. Ohne ahnen zu können, dass sie später einmal Thema werden könnten, hab ich sie nachhause mitgenommen und, wahrhaftig, nach ein paar Tagen schleppender Unterhaltung, wieder ausgesetzt im Teich. Falls die Erinnerung mich nicht betrügt (oder ich sie nicht betrüge). Jahrzehnte nach solchen lapidaren Abenteuern sieht das anders aus, das Spektrum irgendwie … breiter. Ist sie, die Schildkröte, eine vertierte Muse des Alterns? Ein lebendiger Gegenstand der Therapie, der psychiatrischen? Ein Götze, Gott? Möglichkeiten gibt es viele. Sie könnte ein Symbol sein, eine kriechende Allegorie. Zum Beispiel der Erinnerung, was aber besser noch der Krebs sein könnte, der sich, wie wir lesen, in Berlin epidemisch verbreiten soll, deswegen wird er jährlich weggefangen, hier besonders der rote amerikanische Sumpfkrebs, der als „Berliner Hummer“ eine Delikatesse abgeben soll.
Während eines Parkspaziergangs im Oktober 2019, wir kamen aus Moskau, ohne ahnen zu können, dass wir uns in Berlin festsetzten würden für die nächsten 14 Monate und mehr, musste ich wieder daran denken. Ich wartete auf sie, die nicht kam. Nicht das erstemal. Ich erzählte den Kindern von den Schildkröten, die wir hier fanden und die vielleicht unsre eigenen waren; es war natürliche Angeberei mit einem völlig unnötigen Exotismus, der heute vermutlich eine Strafbarkeit ist. Wir standen mehr als eine Stunde am Geländer am Teich und warteten auf Schildkröten. Keine kam. Die Sumpfblasen blubberten, eine Ente segelte vorbei, Krähen krächzten, Tauben schissen, eine zweite Ente schwirrte an. Dann wurde es dunkel. Die Kinder waren enttäuscht, Irina war das gewohnt und ich vergaß alles schnell.
Mehr als ein Jahr danach, gestern, dachte ich wieder daran. Kaum überraschend in der Periode des erzwungenen verbotenen Flanierens. Das Wort „Passagen“ bekommt, mit oder ohne Benjamin, neue Bedeutung. Man steht wie ein von der Pest aufgeladener Don Quichote vor den Metaphernschleudern unverarbeiteter Lektüren. Der Pfuhl ist wieder ein Teich und die Schildkröte der Erinnerung der „gehörnte Fisch der Tiefsee“, den Benjamin im Gespräch mit Brecht an der schwedischen Küste als Vorgestalt einer Arbeitermonarchie auftauchen sah, die auch in Berlin etabliert werden sollte für ein halbes Jahrhundert. Ein flüchtiger Blick über den morastigen Boden hier ließe diese Deutung zu. Bei näherem Hinsehen zeigt sich das mythische Gehörn als Fahrradlenker voll Schlamm, ein verbogenes Drahtstuhlgestell vom Restaurant im Park, ein Rollstuhl ohne Räder, und der Leviathan insgesamt als Allegorie einer Allegorie, die nur in der Literatur ihren Platz hat, groteskes Spiel einer pervertierten Natur. Wir fanden keine Schildkröte, das nicht, aber wir sahen die Spuren, von denen wir zumindest annahmen, dass Schildkröten, wenigsten eine, sie zurückgelassen hat.
Die mit Gleichmut und Routine gepanzerten Pariser Flaneure führten, wie Benjamin uns vorhält, Schildkröten aus oder gaben vor, sich führen zu lassen. Vorzugsweise in den Passagen, „in denen der Flaneur dem Anblick des Fuhrwerks enthoben war, das den Fußgänger als Konkurrenten nicht gelten läßt“. David Wagner hat sich im Lockdown-Frühjahr von 2020 auf den Weg des Reenactments gemacht, und das historische Tempo des wahren Flanierens in der Übersetzung des pandemisch erzwungenen Pausierens wiedergefunden, siehe https://www.distanz.de/buecher/ingo-van-aaren-und-david-wagner/nachtwach-berlin/nocturnal-berlin. Anders als in Benjamins Zeitschablone, dem Paris des Second Empire, ist Berlin (wie wahrscheinlich auch Paris heute) ein sich selbst zerstörendes Medium geworden, das im Strom der einander überrollenden Informationen kaum mehr als ein schlammiges Bild abgibt, weil ihm die Beschreibung fehlt. Vielleicht warten wir darauf, vielleicht nicht. Vielleicht brauchen wir die Beschreibung, als Reflexion vorausgesetzt, nicht mehr. Vielleicht lassen sich Allegorien und Metaphern gleichermaßen im Sumpf wiederfinden, der zum Beispiel Instagram heißt.
Ein Jahr nach der Ankunft aus der Moskauer Zwischenstation gehen wir den Gang zum Ententeich noch einmal. Wir warten auf Schnee, wir hatten ihn gestern, vielleicht kommt er morgen. Vielleicht entdecken wir im Palimpsest der fließenden Kristalle das Urmedium der Reflexion, sehen die verschliffenen Fußabdrücke einer Schildkröte und wundern uns nicht. Und würden wir sie finden, folgten wir den Spuren bis …