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Tag 36

Berliner Phänomene: Kommunikation/

Wenn wir über Kommunikation als Alltagsphänomen sprechen, können wir aus utilitaristischer (nicht philosophischer) Sicht sagen, dass Berlin eine Stadt mit kaputter Kommunikation ist. Alle Systeme von Verkehr bis Internet funktionieren, leider, irgendwie, wie soll ich sagen, nicht so richtig. Da der Verkehr eine Art Urform der Kommunikation ist, bleibt festzuhalten, dass in Berlin grundlegend was faul ist. Was natürlich vielen Einwohnern nicht neu ist, ich musste es aber erst lernen.

Vor allem die Internetverbindung: = Kommunikation + Verkehr. Besonders jetzt, in der Abriegelung während meiner ersten Pandemie. Jeden Tag besuche ich online Deutschkurse, um vielleicht irgendwann eine deutsche (berliner) Bürgerin zu werden. Und jedes Mal läuft etwas schief. Zuerst erscheint unser Tutor und geht als Medium in einer Art spiritueller Séance die Anwesenheit durch: Carlos, hallo, Carlos bist du bei uns? Maria? Maria ist bei uns. Können alle Maria hören, ja? Irina? Hörst du uns, Irina? Und so weiter. Nach einer Weile, wenn alle alles hören, alle alles sehen, gibt es immer noch 2 bis 3 von 7, die wegen der hiesigen Internetverbindung nicht sprechen, nichts hören oder sehen können. Ich halte mich deswegen vorsorglich in der Nähe unseres Rooters auf.

Wir wohnen in der Greifswalder Straße, berüchtigt für schlechte Verbindung. Angeblich, weil sie zu nah am Fernsehturm liegt, unter der Funkglocke sozusagen. Das ist ein Witz aus dem Jahr 2000, hier scheint er aber immer noch zu zünden. Obwohl direkt unten die taktstärkste Straßenbahn der Stadt, die M4 (M steht für Metro, Metropole, wurde mir gesagt, kein Scherz!) fahren soll, in der sogenannten Hochfrequenz sogar alle zweieinhalb Minuten; und obwohl ich schon über ein Jahr hier lebe, kann ich mich an eine solche Häufigkeit nicht erinnern. Dafür um so mehr an die täglichen Staus oder eben Ausfälle …

Meine Gedanken schweifen ab, das passiert öfter, wenn die Verbindung lahm oder unterbrochen ist, ich bitte um Entschuldigung. Jetzt aber, jetzt geht es endlich los! Ich sitze gekrümmt am Rooter, an dem sich, weil er so schön heiß ist, auch unser Hund immer gern aufhält, und warte auf die erste Aufgabe. Das Thema ist: Politik. Innenpolitik. Heute: die Hauptstadt. Kein Witz, ehrlich. Deswegen kam ich überhaupt  auf die Idee, diesen Irrsinn aufzuschreiben …

Um nun der ganzen Gruppe die Möglichkeit zu geben, wenigstens zu hören, was los ist, schalten wir alle die Option Video aus. Normalerweise wird bei diesem Schritt die Hälfte unsrer Gruppe aus der Konferenz geworfen und wir müssen die ersten Schritte von vorn durchlaufen, indem wir reinkommen und überprüfen, ob sich alle wieder hören können …

So vergehen die ersten 15-20 Minuten des Unterrichts. Meine Tochter hat keinen Online-Unterricht (und ist deswegen sehr glücklich, ich kann es sehen, sie sitzt mir am Rooter gegenüber an der Kinderzimmertür), aber die Schulzeit geht vorbei, so dass sie vermutlich im Sommer genug Probleme haben wird, sich durchs Lernprogramm zu quetschen. Aber auch wenn sie auch ihre Online-Stunden hätte, bin ich nicht sicher, dass wir beide die auflaufenden Megabytes teilen können. Schließlich hängt auch mein Mann noch zuhause rum und arbeitet (ausschließlich!) am Computer. Meine Tochter schläft also, wenn sie gerade nicht am surfen ist, in aller Ruhe bis mittags, wenn es dunkel wird, und legt mir zur Legitimation ihrer nächtlichen Internetrecherchen den Offenen Brief ihrer Schule an die Bildungssenatorin hin: „Fehlende Voraussetzungen für das schulisch angeleitete Lernen zu Hause – saLzH“.

Berlin ist eine sehr demokratische Stadt, nichts ist sicherer als das. So viele Offene Briefe wie hier hab ich in meiner russischen Heimat nie gelesen, weder in Sachalin noch in Moskau oder sonstwo. Wenn ich meinen russischen Freunden etwas von schlechtem Internet erzähle, glaubt mir das keiner. Wenn ich hier irgendwem vom Internet erzähle, bekomme ich die Antwort: Na, das ist doch Berlin! Keiner würde es glauben, wenn es anders wäre. Dass hier nichts oder nur sehr wenig, in Ausnahmefällen klappt, ist die Regel. Und wenn wir nicht grad Corona hätten, könnte man wohl sagen, der Ausnahmezustand ist hier die Regel.

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