Am 19.3.1979 begegnet Roland Barthes einem alten Freund:
– Sie werden gar nicht älter.
– Sie auch nicht.
– Weil wir immer noch denselben Blick haben.
Barthes meint, dass der Blick nicht altern würde: „Die Leute, die altern, tun das, weil sie keinen Blick haben oder keinen Blick mehr haben.“
Daran mußte ich denken, als ich gestern, am Neujahrsabend, zum – ich kann nur schätzen – vielleicht fünfhundertsten Mal den mit ausgreifendem Schritt durch unser Viertel stampfenden Alten sah, aufrecht, elastisch und gedrungen, dichter weißer Schopf wie seit ich ihn das erstemal um 2000 herum bemerkt habe, unverändert im schnellen und immer zielstrebigen Gang, egal ob feier- oder wochentags, immer den Eindruck des enorm Beschäftigten machend, eine Kleinstadtfigur in der Großstadt, hoffmanesque irgendwie, kleinstädtisch nur, weil ich ihm ausschließlich in den Straßen um den Wasserturm herum begegne, eine Kiezbekanntschaft en passant, und dass man sich vom Sehen kennt, zeigt der einander ausweichende Blick. Vielleicht ist er hier als Kind oder junger Mann vor – ich kann nur schätzen – 70 Jahren schon so durch das Nachkriegsviertel marschiert, immer beschäftigt, immer wichtig, mit den Armen gestikulierend, wenn er wem begegnet, mit dem was zu besprechen ist. Ist er nur deswegen nicht gealtert, weil sich mein Blick auf ihn, nicht geändert hat, in Art eines auf das Gegenüber ausgelagerten Dorian-Gray-Effekts möglicherweise? Was und wer bin ich in seinem Blick? Was sind die Häuserfronten, an denen er seit Jahrzehnen entlang marschiert – nicht gealtert? Vielleicht marschiert er ja nicht, vielleicht ist der Marsch seine Form des Flanierens?
Gestern, als er aus der Kolmarer in die Mühlhauser Straße einbog, schneller noch als sonst, so daß er sich in die Kurve legen mußte, wo es eng wird zwischen der Mauer der Stadtbibliothek und der Straßenlaterne, als er mit der Rechten unsern Sohn beiseiteschob wie die Bugwelle eines Schnelldampfers ohne es zu berühren ein trudelndes Boot (tatsächlich, er hatte das Kind nicht berührt, wegen des Abstandsgebots, der Ansteckungsgefahr) … daran dachte ich, als er schon links in die Prenzlauer einbog und das Kind auf die am Straßenrand abgestellte Matratze kletterte, da wo der zerrupfte Weihnachtsbaum in den rostigen Reif am Mauervorsprung des seitlichen Bibliothekseingangs geklemmt war.
Ich nahm mir vor, das nicht zu vergessen und irgendwann dem Kind zu erzählen. Was eigentlich? Dass der Blick, der uns nicht altern läßt, Reflexion ist, ein Blick, ohne Rückblick nicht zu haben, mit Barthes und auch ohne nicht? So ungefähr.