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Tag 24

Bevor das alles losging, war es längst losgegangen. Im Sommer 2019, ein halbes Jahr bevor „Covid 19“ als globale Pandemie antrat, ging ein Blatt von Alfred Kubin für mehr als eine Million Euro bei Sotheby’s über den Tisch. „‘Epidemie‘, 1900/1901, Tuschfeder, laviert, gespritzt, auf Katasterpapier, 26,5 cm x 25,7 cm.“ Erstmals Geld in dieser Höhe für eine Arbeit dieses Zeichners. Kubins getuschter Albtraum entspricht dem, was Ernst Jünger 1981 zu Brecht anmerkt, der über Kubin bemerkt haben soll, er sei „heimisch im Unheimlichen“. Alle drei sind sie Bestien der Verfremdung, alle drei mit unterschiedlicher Stoßrichtung sind sies im Extremen; Kubin und Jünger näher am und im Mythologischen, Brecht im dialektischen Aufklärungsfuror , der als Vollender der Moderne die Produktionsweise der Kunst ins Boot holt und zur Kunst selbst erklärt. Was die anderen nicht interessiert. Was alle eint, ist der kalte Blick, die Distanz zum Geschehen bei gleichzeitigem Einverständnis mit dem Gegenstand, der den Einsatz der Kunst braucht so wie der kranke Körper das Skalpell braucht oder die Medizin. Der Hang zur Katastrophe, zum stärkeren Reiz, zum Extremen ist der Motor, der die Kunst und die Wissenschaft befeuert. Wie alles, was gegen Grenzen geht. Kubins Zeichnung von 1900 zeigt den Tod, der sich über eine Sammlung verschneiter Hütten neigt, und zugleich die Heimeligkeit im Unheimlichen, die mit E.T.A. Hoffmann im Jahrhundert zuvor in der deutschen Literatur Platz nahm wie ein Familiengespenst am bürgerlichen Tisch. Außer Oskar Panizza und eben Kubin mit der „Anderen Seite“ und Jünger mit seinem Lebenstagebuch, gibt es nicht viele, die da folgen. Die Epidemie von heute läßt uns bei der Nachricht von gestern noch einmal aufhorchen. Im Preis bei Sotheby’s steckt keine Vorsehung, keine Prophetie, sie zeigt nur, wenn man Kubins Zeichnung betrachtet, was wir vermissen: da ist die Winterlandschaft, inklusive Schnee, als erstes, das Dorf, der Landsitz als zweites, der gerade jetzt im Gegensatz zur Stadt Freiheit bedeutet, da ist das schaurigschöne Moment, so lange es abstrakt bleibt, das sich über die Darstellung des Todes nähert, da ist der irre Strich Kubins und da sind wir, die reflektieren, die auf ein altes Blatt sehen, und schon setzt sich der Motor der Reflexion in Gang, in dieser Zeit, wir sagen Weihnachten, besonders leicht. Viel fehlt uns und wir haben noch zu viel.

 

Für Roman Arbitman, gestorben am 19.12. 2020 in Saratow

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