„Er hatte in seiner Krankheit geträumt, daß die ganze Welt dazu verurteilt war, einer furchtbaren, nie dagewesenen Seuche, die aus den Tiefen Asiens nach Europa kam, zum Opfer zu fallen. Alle sollten zugrunde gehen, außer einigen wenigen Auserwählten. Es waren irgendwelche neue Trichinen, mikroskopische Wesen, die sich in den Körpern der Menschen einnisteten. Aber diese Wesen waren Geister mit Verstand und Willen. Die Menschen, die sie in sich aufgenommen hatten, wurden sofort besessen und wahnsinnig. Noch niemals hielten sich Menschen für so klug und unfehlbar, niemals hielten Menschen ihre Urteile, ihre wissenschaftlichen Ergebnisse, ihre sittlichen Überzeugungen und ihre Glaubenssätze für so unerschütterlich wie jetzt diese Kranken.“
Dostojewskij
„Schuld und Sühne“, der letzte Traum Raskolnikows
Vieles liest sich unter den Umständen der tatsächlichen Seuche natürlich anders; anders auch das, wo sich am Ende der Lektüre Dostojewskijs heute offenbart, dass wir doch alle krank – wenn nicht gewesen, es doch deutlich – sind. Die Seuche ist eine Krise, die Pandemie eine Krise, die Corona eine epistemologische Krise und die Krankheit ist eine Krankheit der Erkenntnis. Manchmal kümmert sich der Alltag nicht darum; die sogenannten Besorgungen, die unter der Maske noch mehr Sorgen sind als sonst, beispielsweise.
Ein Tag vor Nikolaus, die Kinder halten die Füße nicht still, die Stiefel rotieren. Wenn schon kein Schnee, dann Tannengrün stattdessen. Schwierig nach acht Uhr abends, zu spät wie so oft für alles wieder. Wenn kaufen nicht geht, dann klauen irgendwo – der Friedhof ist seit 18 Uhr geschlossen. Kränze kriegst du nirgends mehr, dann muß es ein Baum sein. Am verlassnen Haus der Statistik am Weihnachtsbaumverkaufsparkplatz am Alex, preist „Der Tannenmann“ je „Nordmanntannenbund“ 1€99 aus.
„Ich hätte gerne zwei Stück.“
Zwei jugendliche Baumverkäufer, von zwei Glühweinfreunden garniert, unisono wie im Chor: „Suchen Sie sich welche aus.“
Ich zähle Münzen in seine behandschuhte Hand. Er nickt, sagt grüblerisch: „Ich danke euch.“ Seltsam, warum sagt er das? Still der Moment, in dem wir die Flocke fallen hätten hören könnten, gäb es Schnee.
Der Behandschuhte sieht mich an, scheint sich über sich zu wundern, winkt dann ab und zählt das Geld. Die Glühweinfreunde lachen. „Keine Umstände, bin doch allein.“ Und weils so leicht ist, lach ich auch.
Die vier probieren verschiedene Bücklinge aus, der Chor verbeugt sich, ein Glühweinfreund ruft, „Majestät!“ und wirft die rote Mütze in die Luft.
Ich steig aufs Rad und fahr zurück in die Krise.