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Tag 136

Totentag // Lino Reppin, gestorben unter freiem Himmel //

Seitdem er tot ist, weiß ich seinen Namen, mit nome de guerre im Ganzen: Lino André Reppin Flachs.

Ich hab ihn nie komplett gesehen, immer nur seine unterm Schlafsack und in Müll verborgenen Konturen, und ein- oder zweimal sein Gesicht, wenn er den Tag anblinzelte oder auf einen Arm gestützt las, wie ein Mann, der auf der Straße liegt (lebt), eben liest. Der Anteil an Büchern um seine Wohnung unter freiem Himmel, wie er gesagt haben soll, war so groß wie der Anteil an Müll, der Versuch, Struktur in sein Nächstes zu bringen, erkennbar. Er schlief auf Büchern, Bücher waren seine vierte Wand, gegen Wind und gegen Publikum. Wenn ich nachts durch sein Schlafzimmer lief, war das Schnarchen zu hören, morgens, wenn ich durch die Küche stapfte, nickte er mir zu, ich ihm. Einmal, Ende Oktober, hörte ich die Stimme: „Morgen“. Ebenfalls.

Tagsüber begegneten wir uns kaum, ein paarmal sah ich ihn auf dem Klo hocken im Gebüsch an der Kreuzung. Ein Fahrrad, das am Zaun zum evangelischen Kindergarten lehnte, behangen mit Beuteln und Beute, und allmählich zuwuchs, gehörte zu ihm. Er konnte es sehen aus seiner Horizontalen, an der abgestellten Glocke vorbei das Rad am Zaun, den Garten, das Gemeindehaus und oben in der Gaube ab November den Stern, der leuchtete bis Epiphanias, drei Jahre lang.

Seine Wohnung, unser Durchgangszimmer, im linken äußeren Stützbogen der Kirche mit Blick auf die Ecke Prenzlauer Berg/Otto-Braun, steht leer. Der Friedhof Georgen-Parochial I., auf dem die Künstler dabei sind, die Mehrheit an Kompost zu bilden, wartet mit einem Loch in der Erde auf ihn. Vielleicht umsonst; sein von ihm als tot ausgegebener Vater soll wieder aufgetaucht sein und beansprucht den toten Sohn für sich, wurde gesagt.

Der Gang mit dem Hund um die Kirche an seinem, wie er gesagt haben soll, Schlafsarg, vorbei, war durch ihn und die andern, die in den Sträuchern am Hotel, das im Osten Verwaltungsrevier war, leben – ein Weg durchs Dorf, in dem man alle zu kennen glaubt, auch wenn man keinen sieht. Der Hund wird ihn besser gekannt haben als ich.

Seine Sammlung, in der wir, die wir vorbeigehn, nur Müll erkennen, ist verstreut. Sie gehört zum Fragmentarischen, aus denen die Stadt besteht, seine jetzt herrenlosen Facebookposts gehören, auf der Kommentarebene, dazu. Ein Kreisverkehr, den man nur mit fremden Bildern einsehen kann. Selbst an denen, die auf der Außenseite leben, zieht das Leben außen vorbei.

Reppin war einer von denen, die zusammentragen, was der Tag hinter sich lässt. „Ich habe nichts zu sagen, nur zu zeigen“, stellt Walter Benjamin die tragende Figur der Passagen, seinen Lumpensammler vor, ohne den Baudelaire ins Innerste Paris nicht gelangt wäre. Man muss sich aufgeben, um tief genug sinken zu können – und dann noch das Verständnis dafür haben, dass man sinkt, nicht absteigt, denn meistens wird man aufgegeben. Man muss vom Grund her reflektieren können, um dann noch festhalten zu können: „Ich werde nichts Wertvolles entwenden, mir keine geistvollen Formulierungen aneignen. Aber die Lumpen, den Abfall: die will ich nicht inventarisieren, sondern auf die einzig mögliche Weise zu ihrem Recht kommen lassen: sie verwenden.“ Die Verwendung ist vielfältig, hier ist sie Beschreibung.

Alle hatten ihn gesehen, niemand kannte ihn. Die Kirche, an der er gelebt hat, richtet eine Feier aus, trocken wie kein Gottesdienst. Zwanzig Leute, zwei Lieder, ein Gebet, ein Pfarrer und ein Bild mit Bart, Erinnerungen, die Frau, die den Stern ins Fenster hängte, die das Essen unter die Glocke schob, die sein Kühlschrank war, und: Gottseidank, er ist erlöst, nicht noch ein Winter auf dem nackten Stein. Wir lernten, was er auf dem Bild gesagt haben soll, was er gewesen sein sollte, wollte, unglaubliches. Es war der 28. November, der Tag, an dem der Schnee zurück kam.

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