Heiner Müller und die Zukunft der Festung Europa
„Wenn die Festung Europa nicht zu halten ist und die Bürgerkriege militante Formen annehmen, wird es einen strukturellen Stalinismus geben.“ (in FREITAG, 25/1993)
Im Jahr 2023 hält sich die Festung Europa mithilfe des Bollwerks Ukraine. Wenn das Bollwerk Teil der Festung wird, fängt die Festung an zu wandern.
Der putinistische Stalinismus ist schwerer zu zertrümmern als das Original, er hat keine Verfassung, kein Gesetz, kaum kenntliche Strukturen. Die fließende Gestalt der Verquickung von „Silowiki“, den Inhabern der militärisch-politischen Macht mit dem oberen Dutzend Oligarchen, die einen Staat im Staat inklusive eigenem Gewaltmonopol bilden, füllt die Hohlform des Stalinismus aus. Diktatur und Oligarchie verschmelzen zur Silowarchie.
Auf drei Säulen ruht das Konstrukt: Ressourcen, Militär und Korruption. Bildung, Wissenschaft, Forschung und Industrie sind dem nur untergeordnet. Diese für den größten Flächenstaat der Erde verantwortliche Struktur zieht einen Großteil ihrer Kraft aus dem undurchdringlich Unwirklichen, das durch keine Reform abzuschaffen ist. Zusätzlich blockiert durch Sanktionen, Kriegswirtschaft, Terror gegen die Opposition und Exodus der progressiven Kräfte, kann Zukunft nur Sackgasse sein. Dem düstern Ende zu entgehen, wird Expansion zum Notausgang, Krieg das letzte Mittel zum Erhalt der Macht.
Der Unwirklichkeit dieser Konstruktion entspricht in der Realität ein Festungssystem nach Kafka, das eine Bürokratie (in eben russischen Ausmaßen) beherbergt, die dem Machterhalt der Clique dient, die sich das größte Land der Erde, die größten Ressourcen unter Gebrauch demokratischer Prozesse angeeignet hat. Dmitri Muratow definiert die Clique als „die die Demokratie in Russland für sich erobert haben, um sie zum Zweck des Machterhalts dem Rest der Bevölkerung vorzuenthalten“.
Die Cliquenherrschaft, untermauert von neurussischen Ideologien und synthetischen Nationalmythen, vertritt den Neostalinismus nach außen, der Präsident leiht der pyramidalen Struktur das sphinxhafte Gesicht. Insofern eine aktualisierte Variante des Stalinismus vom Ende der 1930er Jahre mit geopolitischem Anspruch.
Dagegen ist Sibirien, die „asiatische Zeitreserve“, von der Heiner Müller 1993 noch sprechen konnte, inzwischen im Besitz oligarchischer Gruppierungen, die sie an parteiverbundene Gruppierungen aus China verkauft. Kohle, Öl, Gas, Wasser, Wälder und Metalle wandern ab, der Klimakollaps im Permafrost und die Brände tun ein übriges, die Verhältnisse in Fluss zu setzen. Das Fundament der Festung löst sich auf, sie wird amorph und schwimmt.
Die Verwandlung des Staatswesens in einen Leviathan des Terrors – repressiv im Innern, aggressiv nach außen – ist logisch aus der Perspektive der Macht, die ihre eigne Realität erzeugt, und deren einziges Argument die Gewalt des Stärkeren ist. Dass sich nur aus dem Inneren des Landes heraus begreifen lässt, was das für die Bevölkerung bedeutet, zeigt eine andere Notwendigkeit des umkämpften Bollwerks Ukraine an. Sie soll der Rammbock sein, an dem die verkrustete Struktur des Angreifers bricht.
Das nach dem Verlust der Sowjetunion adaptierte kapitalistische Geschäftsmodell hat sich zur Diktatur entwickelt, einem Faschismus, der Ideologie und Religion, Profit und Terror zusammenzwingt. – Hier entfaltet sich das Bild, das Benjamin im Gespräch mit Brecht am Beispiel stalinistischer Strukturen im August 1938 in Svendborg notiert hat.
Brecht sieht die Diktatur des Proletariats als Diktatur über das Proletariat und „Arbeitermonarchie“ an. Benjamin vergleicht „diesen Organismus mit den grotesken Naturspielen, die in Gestalt eines gehörnten Fisches oder anderer Ungeheuer aus der Tiefsee zu Tage befördert werden“.
Die grotesken Naturspiele sind von der Qualität, die sich in Kafkas metaphorischen Gestalten, ihren Vorgängen und deren Undurchdringlichkeit zeigt. Sie erzählen davon, wie wenig wir Systeme durchschauen, die mit sich selber kommunizieren – so gesehen, nur ein Phänomen der Moderne. Oder der Postmoderne, Postpostmoderne usf. Der strukturelle Stalinismus ist eines dieser Phänomene, die uns aus der Tiefe der Geschichte entgegensteigen, und mit denen wir nicht anders umgehen dürfen als analytisch.
In einem Gespräch über Postmoderne („Gleichzeitigkeit und Repräsentation“) zwischen Müller und dem Shakespeare-Spezialisten Robert Weimann, wird der neuralgische Punkt benannt: Wenn die Postmoderne den Tod der Utopie erklärt, wird aus der Asymmetrie zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont eine Symmetrie. Eine Nivellierung der Realität, die auf die Implosion von Vergangenheit und Zukunft in bloße Gegenwart hinläuft, Kernschmelze der Zeit.
Ein Problem der Politik, ein Problem des Dramas seit Hamlet; mit Macbeth das Problem der Macht, die keine Differenz erträgt: „Macbeth sieht Banquos Geist, und eine Differenz“, meint Müller, und sieht die Aufgabe der Kunst darin, sich an der Differenz im Raum zwischen Gegenwart und Zukunftshorizont abzuarbeiten.
Der schrumpfende Wirklichkeitsraum entzieht den höheren Regionen Sauerstoff, der Tod einer Reihe kleinerer Oligarchen, Machtfiguren, Funktionären, Staatsbeamten vervollständigt das Bild. Als Todesursache vermelden staatliche Medien durchweg Suizid; die meisten Fensterstürze; abwärts in der Vertikale der Geschichte. Letzter Fall: Am 15. Februar kippt die Leiterin der „Finanzabteilung des westlichen Militärbezirks des Verteidigungsministeriums“) aus einem Hochhausfenster in St. Petersburg. Mit ihr findet die Polizei „entscheidende Dokumente“.
Unsre Vorstellung von Geschichte, die bestimmte Phänomene bei sich behält, schlägt in der Gegenwart gegen eine Wand. Sie ist selbst ein Phänomen und trifft auf die wesentliche Geste Kafkas: Das Staunen. Die Fassungslosigkeit des Einzelnen angesichts der „ungeheuren Verschiebungen aller Verhältnisse“ in Kafkas Werk war Thema in den Gesprächen zwischen Brecht und Benjamin.
„Das Staunen darüber, daß die Dinge, die wir erleben“, sagt Benjamin, „im 20. Jahrhundert ‚noch‘ möglich sind, ist kein philosophisches. Es steht nicht am Anfang einer Erkenntnis, es sei denn der, daß die Vorstellung von Geschichte, aus der es stammt, nicht zu halten ist.“ – Die europäische Vorstellung von Geschichte war offensichtlich ebenso wenig zu halten.
Russlands struktureller Stalinismus ist eine Antwort auf die siegreichen Strukturen des Kapitalismus, der sich in der jetzigen Entwicklungsstufe von seinem annoncierten Totengräber, der Arbeiterklasse, emanzipiert hat. Bevor die in Russland ansässigen Reste dieser Klasse, auf deren Materialwert der Staat gebaut ist, verdampfen, wirft er sie in den Krieg gegen den jüngsten Erfolg der kapitalistischen Strategie, die Ukraine.
Die Rede vom letzten Gefecht einer untergehenden Weltordnung trifft zu.