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Tag 132

Kriegerin

Vom Ende der abfallenden Straße zwischen Prenzlauer und Greifswalder hörst du das Rufen, dann das Klopfen, Stein auf Stein. Dann Schreie, Streit. Von oben ist im Dunkeln nichts zu sehen, nur in der Ferne ein vielleicht wütendes Kind und ein Kinderwagen, in den es will und nicht darf, oder umgekehrt nicht will, aber soll … die Stimme einer Erwachsenen ging jetzt dazwischen.

Vor dem Laden, der „Orthopädietechnik“ verkauft, ein Wagen, mit Überlebenssachen bepackt, die Bank daneben überhäuft Keksdosen, Decken, Moonboots, Handschuhen, Mützen, auf dem Pflaster eine aufgeplatzte Tüte und gefrorene Schrippen. Ein Neuzuzug, so viel Zeug schleppst du nur am Anfang mit.

Ich kam zurück aus NETTO mit dem Hund, den Sack „Saftmandarinen“ in einer Hand, in der andern eine Flasche Dimple, die Heinrich-Roller runter, am VW-Bus vorbei, auf den jemand eine Ladung Schneemänner getürmt hatte …

Von unten die Stimme des unartigen Kindes, näher inzwischen. Im Laternenlicht eine Frau im schwarzen Mantel, schwarzer Mütze, Stiefel, sie hüpft auf eigene Art und sie singt, da wo der Wagen mit dem Krempel steht, nein, singt nicht, sie weint, weint  und versucht zugleich das Kind zu beruhigen, das kein Kind ist – auch eine Frau, klein wie ein Kind, keine anderthalb Meter hoch, im Jogginganzug oder den Resten davon, im Poncho und in Strümpfen.

Sie brüllt in Esperanto oder Portugiesisch auf die Schwarze ein, von der ich dachte, sie singt, sie ruft aber, klagt: HÖR AUF, HÖR DOCH, HÖR AUF … Jetzt erst, zu spät, wird mir klar, was die Kindfrau macht, sie schlägt mit einem Knüppel, doppelt so groß wie sie selbst, um sich und auf alles ein.

Der erste Schlag ist der Schock, tut nicht weh. Den zweiten kann ich kommen sehen, dass sie nicht trifft, scheint sie noch wütender zu machen, überhaupt, die Wut, woher? Sie ist krank, sie ist krank, irre.

Mit dem Rücken deckt sie ihr Camp vor dem Orthopädieladen ab … denkt sie, ich oder die weinende Frau oder irgendwer hat ihre Klamotten, ihre Schrippen, ihre Bank gewollt? Sie schlägt um sich, und der dritte Schlag trifft das linke Knie hart.

Reflexe: Abwehr. Ausweichen. Flucht. Vor einer kleinen Frau? Angriff. Keine Hand frei. Abwehr. Die Mandarinen, die Flasche! Eine Frau! Ich registriere, wie mein Körper zu tanzen anfängt, keine Zeit, die Flasche abzustellen, sie schlägt zu, holt aus mit allem, was sie hat, trifft den Sack, die Mandarinen fliegen, das lenkt sie ab für eine Sekunde, ich greife nach ihr, sie, schneller als ich, trifft meine Schulter.

Sie brüllt wie ein Tier, das Wort, das ich verstehe: PROSTITUTAS, PROSTITUTAS … keine Ahnung, was und wen sie meint. Und wieder der Knüppel, wieder getroffen, diesmal Schmerz. Wo bleibt der Reflex, ihr endlich eine reinzuhaun? Ein Mädchen, Kind, ja, wirklich, kommt die Straße hoch, Kopfhörer, Mütze, einen Terrier an der Leine. GEH WEG, GEH WEG, rufe ich und schwenke die Flasche. Reflex: Zwei Betrunkene prügeln nachts auf der Straße aufeinander ein, was sonst soll das Kind denken.

Vierter Schlag, fünfter, der Knüppel pfeift am Kopf vorbei, der nächste trifft das andre Knie. Der Arm mit der Flasche in der Hand zuckt, dann, endlich, warum erst jetzt, springt der Selbsterhaltungsmotor an: LASS DAS! LASS DAS! HAU AB, AB, AB …! Sie taumelt zurück, schwingt den Knüppel, verliert die Balance und knallt gegen die Bank mit dem Krempel hinter ihr, kommt wieder hoch, holt wieder aus … erst jetzt …

kommt die Menge an Leuten um uns ins Bild, in Gruppen aus den Häusern, sie flüstern, ich kann nichts hören … den Kopf hat sie nicht getroffen, das Blut, das aus dem Ohr läuft, ist Einbildung, auch dass der Arm gebrochen ist oder das Knie … das Kind oder der Zwerg, der die Frau ist, schlägt mit dem Knüppel auf den Boden, stampft und brüllt und flucht brüllend, nimmt Anlauf …

ihr Gesicht unter der Mütze, eine Inka aus Peru im Schnee im Prenzlauer Berg, verzerrt von Wut, Angst, sieht sie Gespenster, ich ein Geist auf ihrem Weg, eine Bedrohung … sie greift wieder an, ich kann mich noch ducken, der Knüppel pfeift über mich, knallt gegen die Linde am Straßenrand, woher hat sie die Kraft …

Ich mit der Flasche in der Hand auf der Straße sehe ihr zu, die gegen den Baum kämpft, der Knüppel kracht gegen den Stamm, Holz zu Holz, wie ein Tanz wieder jetzt.

Das war der Tag, an dem 30.000 von der Erde gewischt worden sind in der Türkei, ein Schütteln tektonischer Platten, die tanzende, brüllende, um sich schlagende Frau, die ratlosen Bürger vor den Bürgerhäusern auf dem Bürgersteig, der Verprügelte mit der Flasche und dem Handy in der Hand.

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