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Tag 131

„Der sowjetische Verkehr ist das Gleis für die Lokomotive der Geschichte“ // „Das geht nicht, antwortete die Lokomotive mit der Demut der vernünftigen Kraft.“ (Alexander Kluge, RUSSLAND-KONTAINER)

Vor 99 Jahren, am 27. Januar 1924, wurde Lenins Sarg in sein erstes Mausoleum gebracht, ein, im Vergleich zum Monolith von heute, zierliches Hüttchen, dem die kurze Haltbarkeit bei der Eröffnung anzusehen war.

Drei Tage zuvor, am 21. Januar 1924, hatte der von einem Ingenieurswerk aus der Zarenzeit, der Dampflokomotive U-127 bewegter Beerdigungszug Lenins gefrosteten Leichnam vom Vorort Gorki zum Pawelezer Bahnhof in Moskau gebracht.

Tausende standen entlang der 35 km langen Strecke im Schnee, tausende sahen den verkörperten Geist der Revolution im Schneckentempo in die Hauptstadt rollen. Niemand konnte das lange, sich in heftigen Beben, unterbrochen von Zwischenkriegsräumen, fortsetzende Ende der kurzen Befreiung, die das Wort vom Roten Oktober versprach, vorwegsehen. Es hält immer noch an. Die Utopie war früh erledigt, der Terror ist es bis heute nicht.

In drei Tagen, in denen der Leninkörper im abgekühlten Haus der Gewerkschaften aufgebahrt lag, und 500.000 Trauernde es schafften, an ihm vorbeizudefilieren, war der Holzbau an der Kremlmauer hochgezogen worden, Artefakt und Anachronismus von Beginn. Das Modell einer proletarisch-bäurischen Pharaonenpyramide, die seit 1930 in dunkelrotem, trauerstrahlendem Granit vor sich hin strahlt.

Von 1942 bis 1945, als das Innere des Mausoleums vor den Deutschen im Sibirischen Tjumen untergebracht war, behauptete ein Trompe-l’œil, das vorgab ein Funktionsbau, vielleicht Theater zu sein, die Position vor der übermalten Kremlmauer. Theater ist die eigentliche Bestimmung seines nur in der Horizontalen auftretenden Protagonisten, der nur deshalb weiter spielen dar, weil mit ihm die Existenz (Halbwertzeit) des Imperiums gleichgesetzt wird, sie ist sein Daseinsbeweis.

Mit dem Totenkult wurde das Hauptstadt-Mausoleum zum metropolitanen Accessoire und Stadtmöbel deluxe – in Peking für Mao um ein Vielfaches vergrößert kopiert – und bis heute schlagende Verbindung von Erztradition und versteinter Avantgarde.

Diese propagandistisch befeuerte politische Moderne hatte ihr erstes Vorbild in den Utopie gebliebenen Architektur der Immensité der Französischen Revolution, die sich den Begriff der ZEITENWENDE vornahm und tatsächlich die Uhren anhielt, tatsächlich die Kalender neu buchstabierte und uns Thermidor und Brumaire und die Geschichte zweier Bonapartes hinterließ.

Mausoleen sind Pop-up-Denkmäler, die sich der Verflüssigung durch Zeit entziehen wollen und enden wie ein Stück Seife in Stein. Sie sind dem 3-D-Drucker der Geschichtsklitterung entsprungen, dem „für immer“ postulierten Ausnahmezustand, den Walter Benjamin in der „Tradition der Unterdrückten“ erkannt hat. Ein materialistisches Geschichtsverständnis, das nichts an Geschehnem jemals für verloren gibt, das Geschichte als von JETZTZEIT erfüllte Vergangenheit begreift, meint Benjamin, könne dem beikommen:

„Der Chronist, welcher die Ereignisse hererzählt, ohne große und kleine zu unterscheiden, trägt damit der Wahrheit Rechnung, daß nichts was sich jemals ereignet hat, für die Geschichte verloren zu geben ist.“

Nicht der Tod eines für oder gegen die Revolution gefallenen Kämpfers, nicht der Atem eines gefallenen Kavallerie-Pferdes, kein Signal der Lokomotive eines Panzer- oder Deportationszugs, kein Zeugnis, keine Attacke eines Staatsanwalts, kein einziger Schuss, keine Klage, kein Jubel, jedes Ereignis – und als solches betrachten wir „von Jetztzeit erfüllte Vergangenheit“ – ist verloren zu geben und bleibt Material für die große Erzählung.

Erzählen greift über Geschichte hinaus, erzählen ist Kultur, ihre Grundlage sogar; jeder Kampf um sie ist der Kampf um Deutungshoheit, die an Relevanz zunimmt, je enger es wird in der Welt, die, wir wissen, nicht schlecht ist, sondern voll.

Erst wenn wir uns eingestehen, dass egal ist, wer mehr oder weniger leninähnlich hinter dem Panzerglas liegt, wird auch diese historische Figur in die Jetztzeit der Vergangenheit überführt und von historischer Zwanghaftigkeit befreit. Und so dann auch sein früheres Imperium. Die Auflösung der Föderation ist die einzige Option zur Befreiung aus der Selbstumklammerung, die schlimm genug, uns alle greift.

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