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Tag 129

Möglichkeitsraum Theater //

Das Wort Möglichkeitsraum, das mehrfach auftaucht seit Kriegsbeginn in der Ukraine, zuerst in die Debatte geworfen von Alexander Kluge am 1. März in der ZEIT, meint die Wette, mit der Zeit ein Spiel spielen zu können. Wir können es nicht. „Zuerst: Keine Politik oder Redeweise der Selbstgewissheit“, lässt Kluge ausrichten, stattdessen kritische Theorie des Gefühls und Differenzierung auf beiden Seiten des Konflikts. Das ist lange her.

Neun Monate später hat der Krieg eine Eigendynamik entwickelt, die ihre signifikante Dramaturgie aufweist. Sie wird analysiert werden, und abgesehen vom monströsen Ausmaß an Selbstgewissheit auf der russischen Seite (im Geflecht von Nationalismus, Überheblichkeit, Absurdität, Brutalität, Propaganda, Reaktion, Revanchismus, Totenkult) und auf der ukrainischen mindestens auch an Nationalismus, wird sich zeigen, dass dieser Krieg wie alle Kriege ist, und jeder Krieg ist ein totaler Krieg. Er sprengt die Grenzen des vorherigen. Die Grenzen des Krieges sind die Grenzen des Lebendigen, die von den Grenzen der Ökonomie nicht zu trennen sind.

Es gibt Möglichkeiten, es gibt Räume; sie zusammenzubringen, ist eine Kunst, die kriegsentscheidend sein kann. Der erste Raum dieserart, zur Zeit der peloponnesischen Kriege, war das Theater, auf dem Konflikte vor Publikum ausgetragen und die Traumata der Kriege übersetzt in Dialog verarbeitet wurden. Ein Raum, in dem im besten Fall und mindestens als Utopie statt Krieg auf dem Schlachtfeld ein Krieg auf der Bühne gespielt werden konnte. Dieser erste Raum seiner Art war künstlerischer und politischer Möglichkeitsraum zugleich. Dass er auch der letzte sein könnte, ist vielleicht schon ein Motiv der Überschätzung.

Die Kriegskunst findet auf dem Kriegsschauplatz im Theater des Krieges statt – die noch von Clausewitz formulierte Basisdefinition ist nicht so weit aus der Welt wie sie uns heute klingt. Weniger war damit eine Ästhetisierung der auch als Handwerk angesehen kriegerischen Handlung gemeint, als die Erhebung ins Theoretische: Ich mache mir ein Bild vom Geschehen, ein Modell. Nicht jedem ist die Möglichkeit gegeben. Denen, die in Trümmern sitzen, nicht – denen, die auf dem Schlachtfeld kämpfen (arbeiten) zumeist auch nicht.

Übersetzung der Schrecken des Krieges in ästhetische Formate als Schutzschirm, den man vor sich aufspannt und durch den man blickt, eine Art zweiter Uniform und dritter Haut über dem verletzlichen Körper, der selbst zur Erteilung von Schrecken gebraucht werden kann.

Das zerbombte Theater von Mariupol, ein Ort, an dem Meyerhold gespielt hat unter andern, bevor der Weltruhm auf der Bühne und die Folter im Keller der Lubjanka ihn erreicht haben, steht bis auf weiteres für das erste und letzte Theater in Europa. Es ist das ohne jeden Sinn postdramatische Theater, die Aufführung ist ausgelagert, sie ist der Krieg, der Europa verwüstet und auf die übrigen Kontinente zielt. Heiner Müllers Wort vom Krieg als letzten Refugium des Humanen vor dem Hintergrund einer durchtechnisierten Welt, die keinen Dialog mehr kennt, hat hier ein Bild gefunden, grausam und absurd im Extrem, das die Literatur, die Kunst, das Theater zu verarbeiten haben.

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