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Tag 128

Mondlandung im Friedrichshain //

Ich war fünf, damit ist jede Täuschung ausgeschlossen. In der Erinnerung war es Nacht, dunkle, sternenklare, und außer dem Mond schickte nur die Gaslaterne dünnes Licht durch die noch übrigen Blätter. Wir waren vier oder fünf, Kindergartenkinder, einer aus der Schule, der vielleicht sechs, schon sieben war, war auch dabei, der Dicke.

Wir lagen hinter dem Kreißsaal in der Kinderabteilung der Halsnasenohrenklinik im Friedrichshain. Wir waren aus den Fenstern des Krankenzimmers gestiegen, der Dicke hat gesagt, das ist Parterre, da passiert nichts. Wir standen barfuß in gestreiften Schlafanzügen auf der Wiese zwischen HNO und Friedhofsmauer, das Gras war glitschig und kalt.

Wir hielten jeder eine Flasche Malzbier in der Hand, weil wir das trinken sollten, zwei Flaschen am Tag, und der Dicke dazu seinen Pappbecher (0,5 Liter vom Backkombinat) mit Vanilleeis, das jetzt Soße war, und starrten nach oben. Die, die sprechen konnten, sagten nichts, weil alle heiser waren. Der Kleinste saß im Fenster und sagte nichts, weil er es sowieso nicht konnte, der brabbelte nur.

Der Mond war so sehr zu sehen, dass die Sache klar war. Pollo war unterwegs, so hieß die Rakete, die den Mond anflog, der Dicke wusste jede Menge Details und die Uhrzeit, nämlich jetzt. Die Rakete, er sagte auch Raumschiff, war Ami, da drin sitzen zwei, die landen und über den Mond laufen nachher, das wollten wir sehen. Dann war auch ein Hund dabei, er hieß Luna, Igel hieß das Raumschiff.

Fünf Finger hat die Hand, ich war fünf Jahre alt, und nächstes Jahr die Schule, soll mir einer was erzählen.

Der Kleine im Fenster jammerte, der Dicke träufelte ihm seine Soße in den Mund und sagte, er würde jetzt sterben, wenn er nicht sofort runterschlucken würde. Der Kleine hätte das eh nicht kapiert, außerdem war er auf den Becher scharf, nicht auf das Geträufel. Die Flaschen klapperten, die Straßenbahn rasselte die Leninallee runter.

Wir standen im Kreis, wir sahen nach oben, bis der Hals auch außen weh tat, wir sahen den Mond, und dann, dann kam endlich, sehr langsam, die Rakete. Sie war deutlich zu sehen, der Auspuff wie ein Kegel hinten, sie schlingerte über die schön beleuchtete Fläche, richtete sich auf und setzte sich sehr langsam ab. Wir hielten immer noch den Atem an, der Kleine im Fenster schmatzte im Eisbecher rum. Dann ging die Tür auf und die Klappe senkte sich ab. Der Dicke hatte gesagt, der Hund kommt als erster, es war aber Armstrong, der kam, so hieß der Kosmonaut, Astronaut, sagte der Dicke.

Einer von uns, vielleicht ich, lag auf dem Rücken und starrte nach oben. Man konnte unter sich die Erde gehen hören und oben Armstrong zusehn, wie er von der Leiter kletterte. Der andere, vergessen, wie er hieß, kam dazu, dann spielten sie Fußball, tatsächlich, man sah sogar den Ball. Dann fiel der Kleine aus dem Fenster.

Ich muss es zuerst gehört haben, weil ich auf der Erde lag, erst fiel der Becher in Zeitlupe runter, dann, im Zeitraffer, der Kleine. Dann schrie er, dann kamen die Schwestern. Ich war sicher, dass wir jetzt das Krankenhaus mit dem Gefängnis tauschen würden, da gab es sicher kein Vanilleeis, wahrscheinlich nicht mal Malzbier.

Der Dicke fing an zu heulen, wir alle marschierten zurück ins Zimmer für die Mandeloperierten. Am Morgen kam mein Vater und holte mich ab. Zur Belohnung, weil ich sieben Tage lang so tapfer war, fuhr er mit mir in das neue Kaufhaus auf dem Alexanderplatz und kaufte mir im dritten Stock in der Spielzeugabteilung das Tischfußballspiel. Der Ball wurde dann in derselben Klinik aus der Nase meiner Schwester, die nie Fußball spielen wollte, operiert.

Heute steckt in den Backsteinbaracken der Klinik der sozialpädiatrische Dienst, der Kreißsaal hat ein eigenes Haus, die Gaslaternen sind ersetzt durch LED und die Kastanien braun im Juli wegen der Motten. Ich sitze unter dem Roten Matrosen auf dem Friedhof der Märzgefallenen rechts vom Krankenhaus und schreibe das auf. Die Blätter fallen, die Jogger joggen, die Eichhörnchen knabbern an den Pizzaschachteln vom Pennerfrühstück letzte Nacht, eine fliegende Ameise landet auf dem Display, ich klappe das Macbook zu und nehme sie mit.

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