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Tag 125

Montagmorgen, Brief aufgeben (Poststempel zählt, Kindergeldkasse). 10:10 Uhr, Ankunft Post (Prenzlauer Allee), einzige Filiale im Umkreis von 3,5 km. Vor dem Eingang zum Postbankautomaten staut sich das erste Dutzend, schüttelt die Köpfe, lacht bitter, klopft an die Türen, kommt ins Gespräch.

An der Jalousie, die die Drehtür verdeckt, klebt der schwach kopierte Zettel: „Vorübergehend angepasste Öffnungszeiten.“ Öffnung 10:30. Dienstag geschlossen, Mittwoch verkürzt … Hier spricht die Postbank, sie ist der Hausherr, alles was mit POST als Standort für Aufgabe respektive Empfang von verpacktem Kleingut zu tun hat, hat hier bestenfalls Gastrecht. POST ist, zusammengefasst, sekundär, Bank primär, beides zu.

An der Tür die seit Jahren hier wurzelnde Alte, den Stapel STRASSENFEGER in der speckigen Folie über dem Arm, die Schüssel für das Kleingeld wippt leer in der Hand, sie weiß, dass sie in der sich hochschaukelnden Lage nichts kriegen wird; das Bettelgesicht im Siebenbürgertuch strahlt irgendwie-irgendwas Sattes aus, der darbende Blick weicht dem der interessierten Zufallsbekanntschaft, wissender Blick, sie scheint amüsiert … Ich drehe ab, zum Bäcker, vielleicht hilft ein Brot.

Zurück 10:27, aus dem Dutzend sind ca. drei Dutzend geworden, die Schlange windet sich die Marienburger runter, die Stimmung steigt, die Stimmen auch. Ich stelle mich an. Leute tauchen auf und ab, Passanten fragen, was es gibt, machen die üblichen Witze: Weihnachtspakete aufgeben, Da-geht-die-Post-ab … überhaupt das Wort POST …

postfaktisch postfeministisch postkommunistisch posthistorisch postkolonialistisch postpubertär posttraumatisch postoperativ postpostalisch postnatal … unfassbar … das ewige Danach …

POST – woran denkst du da? An Lenins taktische Grundlagen der Revolution: „Sofort und ohne Rücksicht auf die Höhe der Verluste a) Post und Telefonamt, b) Post und Telegraphenamt, c) die Bahnhöfe besetzen …“ Was oder wen besetzen, wenn es das alles nicht mehr gibt?

Ein Kinderwagen schaukelt vorbei, die Frau hintendran: Ist das die Schlange für die Post? Kollektives Gelächter. Jemand höflich: Ja, das sind wir. Und Sie sind der letzte? Nein … das ist er. Er meint mich. Ja, das bin ich. Sie steht hinter mir, sieht mich an: Kann doch nicht wahr sein. Ich: Ja. Aber es ist wahr. Sie: Die einzige Post im Umkreis von … Ein anderer: Drei Kilometern.

Vor mir ein Mensch mit Hockeyschlägerfutteral über der Schulter, zeigt sein Google Maps: Fünf! Die nächste: fünf Kilometer. Bahnhof Pankow! Kollektives Seufzen. Vor dem Futteral halb so groß, doppelt so breit, ein Dicker, Stone-Washed-Jeans-Jacke-Mütze, er trägt Maske, Sandalen und Strümpfe: Et jibt hier überall Filjaln, in jeden Café is ja fast eene, keene Post aber eben, keene richtje.

Eine Frau hinter der Frau hinter mir: Stehn Sie alle nach der Postbank an? Der Dicke: Nee! Die Frau hinter der Frau: Kann man dann hier Geld abholen? Der Dicke: Könn Se, ooch Bananen! Früher ham se nach Bananen anjestanden, heute stehn se an nach Post … Das Futteral lacht meckernd. Sie am Kinderwagen hinter mir: Unfassbar. Ein Neuzugang: Echt!?

Echo der Frau hinter der Frau hinter mir: Nicht zu fassen. – Ich kenne die Stimme, ich kenne das Gesicht der Frau der Frau hinter mir, woher? … aus der Schule, ja aus der Schule … Schulanfang … wann? … vor … vierzig Jahren … Einschulung zur Mittleren Reife, Berlin Oberspree … wie hieß sie, wie heißt sie … mit M irgendwas … nein, mit K …, sie, die schon als Mädchen irgendwie mürbe aussah … egal … Name geändert, Speicher voll, Platte gelöscht.

Wenn dit nicht bald losjeht … denn wart ick noch Weile! – Bester Witz bislang, die Schlange bebt, die Alte mit dem Becher und dem STRASSENFEGER lächelt weise mit. – Die Tür schwingt auf, die Postbeamtin, unnahbar in Uniform, Frisur und Falten, entsperrt die Drehtür und: bekommt Applaus. Die Alte deutet ein Händeklatschen an, Becher, Zeitungsstapel klatschen mit.

Die Hälfte der Schlange verschwindet im Eingang, der inzwischen zweigeteilte Rest windet sich die Marienburger hoch/die Prenzlauer lang, und reißverschließt sich durch die Tür, es ist die schmale, durch den Raum, den sie Servicebereich nennen.

Drinnen wallt die Laune, von draußen sind noch UNFASSBARs zu hören. Die Schulbekanntschaft hinter mir, immer noch erstaunt: Angepasste Öffnungszeiten …? Der Dicke wieder: Anjepasste Öffnungszeiten, anjepasst an wat denn!? Frau am Kinderwagen: … und ist noch nicht mal Weihnachten“

An unserer Indoor-Schlange vorbei schwebt eine Schwangere, nicht mehr jung, exotisch-wunderschön, und fragt in einem Akzent, der, ich weiß nicht warum, ein Bild von Mexiko aufruft: Ob sie an den Schalter gehen kann …

Der Dicke: Watt wolln Se?

Das Futteral: An den Schalter? Da wolln wir alle hin!

Die aus der Schule hinter mir: ABER SIE IST SCHWANGER!

Ich (Echo): SCHWANGER …

Die am Kinderwagen: ABER …

Der Dicke: Wat isse, schwanger? Seit wann denn!? Zehn Minuten, wa!

Die Schlange bebt, der Dicke hat Glück, er ist dran, stapft an den Schalter.

Das Futteral: Entschuldigung-Entschuldigung, ich dachte … das Kleid … hab das Kleid nicht gesehn … Quietschend kriegt er die Kurve ins Kompliment.

Die Schwangere schwebt, gießt mildes Entzücken aus über uns und errötet (warum wundert mich das?) kein bisschen … schwebt weiter zum Schalter, erledigt ihr Päckchen, driftet zurück vorbei an uns, lächelt voll Gnade, und bekommt: Applaus.

Ich bin dran. Einschreiben bitte. – Mit Unterschrift oder ohne? Großbrief mit: 3 Euro 95, ohne … Ohne bitte.

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