Modell Hongkong. Keine Insel bleibt //
Ein Freund, zehn Jahre Korrespondent in Peking für die große Zeitung aus Frankfurt am Main, erzählt vom ersten Besuch in Honkong im Sommer 2001, einer Zeit, als „dass“ noch mit „ß“ zu schreiben war. Er spürt eine Gesellschaft von Benjaminianern auf, die es dem Hörensagen nach dort geben soll, stolpert dem Traum nach vom öden Haus in der düsteren letzten Gasse der Stadt, die seit vier Jahren aus der britischen Herrschaft entlassen nicht mehr Kronkolonie, sondern chinesische Sonderverwaltungszone ist …
Der Traum entpuppt sich als Chimäre. Zwar findet sich das Klingelschild „Blaue-Schrift-Buchladen“ am Ende einer Passage verwahrloster Höfe, doch dann zeigt sich die Wirklichkeit als Zweizimmerwohnung im 30. Stock über Hongkongs Planstadt. Ein steinaltes Männlein, Antiquar, öffnet die Tür. Nickelbrille, Schnurrbart, krauses Haar, aber die Augen, sie sind anders, asiatisch. Vielleicht lebt Benjamin dort, fernöstlich von uns fort, dem Himmel der Vergangenheit näher als wir, hoch über Konstellationen von Mächten, die um die politische Hoheit der Welt ringen.
Wenige Städte waren metropolitanes Modell so sehr wie Hongkong. Die Île de France Paris oder die märkische Dorfansammlung mit Namen Berlin, von dem zwischen 1945 und 89 der westliche Teil (drei von vier besetzten Zonen) sich als Insel, „frei in einem Meer von Plagen“ darstellen konnte. Atlantis und Utopia schwammen am Horizont der Geschichte immer mit. Jedes Modell von Stadt verheißt neben Prosperität und Schutz auch jede Menge dessen, was man leichthin Glück zu nennen gewohnt ist. Unser Korrespondent in Hongkong schrieb:
„Wenn es eine ‚global city‘ gibt, dann diese Stadt, in der die Kapital- und Informationsströme freier von jeglicher Beschränkung durch Zeit, Raum und Tradition fließen als irgendwo sonst, ein Menetekel für das, was der übrigen Welt erst noch bevorsteht.“
Und weiter:
„Der Flaneur wird hier unweigerlich aus seiner Benjaminschen Selbstbeschau gerissen und hineingenommen in einen alle Atomisierung aufweichenden Fluss der Bewegung. Die Sphären von Beruf, Familie, Öffentlichkeit und Konsum sind aufs engste miteinander verwoben. Alle Räume sind in grelle Helligkeit getaucht: die Straßen, die Geschäfte, die Lokale, die U-Bahnen. Die Gesichter und die Kleider brauchen kein Licht zu scheuen … Seit seinen ersten Anfängen ist Hongkong von Menschen bevölkert, für die das Leben ein Kampf ist und diese Stadt eine Glückschance ohnegleichen.“
Das war sie, um 2000, die Modellstadt Hongkong, als Flanieren noch eine Option war. Heute ist die „Zone“ von einer Patina der Perfektion umgossen und fest im Griff der Diktatur. Jede Stadt funktioniert – irgendwie – und jede auf Perfektion vorgebende Weise. Wenige funktionieren in der Perfektion des Kaputten. Eine Ausnahme bilden die sozialistischen Modellstädte auf der Basis des Mangels, wo Improvisation der größte Vorteil war. Das „Glücksarsenal des Kaputten“ konnte Benjamin mit seinem Reisegefährten Alfred Sohn-Rethel vor 100 Jahren in Neapel und Marseille entdecken, im vorstalinistischen Moskau, im Abfall der Geschichte, im Auswurf der Kultur seiner Modellstadt Paris.
Ein zweiter Freund, er gehört zur Gruppe westdeutscher Studenten, die als erste nach Maos Tod ins Land durften (von Berlin-West nach -Ost, von dort nach Moskau, durch die endlose Sowjetunion mit der Transsibirischen Eisenbahn über Omsk, Krasnojarsk in 5 Tagen/13 Stunden/23 Minuten ohne Verspätung bis Peking durchs bis eben noch verbotene Land), fotografiert eine Gesellschaft, die in scheinbar kollektiver Ausgeglichenheit wie eine offne Tür ins Kommende ragt. Noch sind die Erschütterungen von Maos Diktatur nicht abgeklungen, noch werden Gummibälle auf die Viererbande geworfen, aber das Telefon wird schon gelehrt. Nie ist die untergehende Welt von der aufgehenden exakt zu scheiden, sie greifen über Generationen noch ineinander.
Die Bilder, aufgenommen im Frühjahr 1977, zeigen vor allem andern eins – eine verschwundene Kultur der Materialität, die trotz Mangel und staatlicher Repression einen Zugriff auf Produktionsweisen, die bestimmten Traditionen über Jahrhundert verbunden waren und die Welt erfassbar hielten. Ein antäisch zu nennendes Verhältnis zur in die Tiefe der Geschichte reichenden Kette der Kultur.
Wie Produktionsmittel und Produktionsweisen sich ändern, ändert sich oder schwindet „Aura“, der Begriff, den Benjamin für „geschichtliche Gegenstände“ im metaphorisch betitelten Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ ins Gespräch gebracht hat. Der geschichtliche Gegenstand „Epoche“ könnte folgenden Satz Benjamins ausgelöst haben: „Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung.“
Reden wir von China, wenn wir von Hongkong reden, reden wir von Massen, im historisch eingegrenzten Fall von Kollektiven. Das 20. Jahrhundert, das wir als Jahrhundert des Massemenschen, Massensterbens, der Materialschlachten der Kriege und des ressourcenfressenden Konsums ansehen, war bloß Prolog für das digitale Massenzeitalter, in dem wir uns befinden. Möglich, dass die steigende Bevölkerungszahl und der schwindende Rückhalt des immer poröser werdenden Globus‘ das nicht nur beschleunigen, sogar bedingen – für reale Materie wird der Platz eng, der Raum für digitale dagegen weit wie das Universum.
Eine Notiz aus dem Passagenkomplex greift das Phänomen technologisch:
„Der Form des neuen Produktionsmittels, die im Anfang noch von der des alten beherrscht wird, entsprechen im Kollektivbewußtsein Bilder, in denen das Neue sich mit dem Alten durchdringt. Diese Bilder sind Wunschbilder und in ihnen sucht das Kollektivum die Unfertigkeit des gesellschaftlichen Produkts sowie die Mängel der gesellschaftlichen Produktionsordnung sowohl aufzuheben wie zu verklären.“
Benjamin wählt als Beispiel die Lokomotive und zitiert Marx, KAPITAL, erster Band:
„Wie sehr im Anfang die alte Form des Produktionsmittels seine neue Form beherrscht, zeigt … vielleicht schlagender als alles Andre eine vor der Erfindung der jetzigen Lokomotiven versuchte Lokomotive, die in der That zwei Füsse hatte, welche sie abwechselnd wie ein Pferd aufhob.“
Die Wunschbilder, von denen Benjamin spricht, richten sich nicht nur in die Zukunft, sie nehmen sie auch vorweg. Erste Autos schoben sich in Gestalt von Zwittern, aus der Verbindung von (noch nicht existierender) Lokomotive und Kutsche entsprungener Gefährte, durch die Gassen. Cugnots Feuerwagen, der 1770 den ersten Autounfall der Geschichte verursachte, als er in Paris mit 3,5 km/h in eine Kasernenmauer rauschte, zeigte mit dem Hinterleib der Ameise noch zoomorphe Formen; der London Steam Carriage 1803 von Trevithick, war, als was er bezeichnet wurde, eine Dampfkutsche. Sobald sie auf Schienen gesetzt war, wurden Bahnhöfe als Paläste und Schlösser hochgezogen, die den Luxus des Reisens feierten und jeden in den Adelsstand der Moderne erhoben, der in bislang unerhörter Geschwindigkeit von Station zu Station zu bewegen sich leisten konnte, bevor Bertha Benz mit ihren Söhnen im Patent-Motorwagen durch die Straße rollte.
Erst nach weitrer Entwicklung der Mechanik und gehäufter praktischer Erfahrung wird die Form gänzlich durch das mechanische Princip bestimmt und daher gänzlich emancipirt von der überlieferten Körperform des Werkzeugs, das sich zur Maschine entpuppt.
Das Neue, das sich mit Altem durchdringt, war im 20. Jahrhundert schlagend an der sowjetischen Industrialisierung (Lenin: „Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes“) und Maos Großen Sprüngen zu erkennen. Das Neue fraß das Alte. Der Verdauungsprozess ließ sich an den großen politischen Eruptionen ablesen. Übersetzt lässt sich sagen, dass die Lokomotive Hongkong jetzt wieder im Pferdeschritt geht.
Als in Shanghai und Peking die Kinder maoistische Kampflieder vertanzten, war Hongkong schon eine Gesellschaftsordnung weiter und ging der nächsten nicht ohne Sorge entgegen. Bis zur Übergabe in die Chinesische Staatshoheit am 1. Juli 1997 blieben 20 Jahre, keine Generation, um sich auf den Übergang von einer Abhängigkeit in die nächste einzustellen. Die produzierende Industrie wurde nach China verlagert, und Deng Xiaopings Ideologie „Ein Land, zwei Systeme“ (das Neue, das sich mit dem Alten …) versprach einen Kapitalismus im Kommunismus, eine Insel in einer als „Meer der Prosperität“ neu definierten Volksrepublik China. Einen Ausweg aus der um sich greifenden Krise des Kapitalismus nach dem Triumph über den Ostblock und der Implosion des Sozialistischen Lagers. Allerdings war das Ende der Systemkonfrontation nicht das Ende nur des einen Systems.
Dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts „ein Land, zwei Systeme“ ein brauchbarer Slogan zur Befeuerung einer noch nicht definierten neuartigen Gesellschaftsordnung hätte sein können, bestätigt der Bericht aus dem Jahr 2001. Der Inhaber des „Blaue-Schrift-Buchladens“ – tatsächlich hat er eine Glatze, sein wahrer Name ist Ma Kwok Ming – ist Autor einer Benjamin-Monographie wie auch einer über Hongkong, Titel „Ökonomie der Straße“, in der es heißt, von Benjamin könne man lernen, die Stadt nicht statisch zu betrachten. Ma nähme, schreibt unser Korrespondent, „Information“ als Modell:
„Daß die Stadt eine Kulturwüste ist und zugleich ein Informationsdschungel ohne Beispiel, scheint sich gegenseitig zu bedingen. Doch wenn man es schaffe, der Ware ‚Information‘ das Geheimnis ihrer Entstehung abzulauschen, das sie hinter ihrer glatten Oberfläche verbirgt, ließe sich diese Wirklichkeit neu interpretieren. Das Endprodukt ‚Information‘ selbst kümmere sich zwar bloß um seine Brauchbarkeit und Verkäuflichkeit und habe daher mit Kategorien wie Wahrheit oder Schönheit nichts zu tun; doch in sein Inneres seien zahllose ästhetische und philosophische Einflüsse eingegangen.“
Und weiter:
„Gelinge es, diese Faktoren wieder aus dem starren Endprodukt zu befreien, zu entfesseln, öffneten sich der kulturellen Praxis ungeahnte neue Möglichkeiten: vom Spiel über die Verfremdung bis zur Subversion. Das dicht gewebte Informationsnetz, das über Hongkong liegt und seinen Erfolg ausmacht, werde so zu einem Geflecht kultureller Bezüge und damit zum Grundstoff für eine ganz neue Weise, inmitten des Kapitalismus eine außerökonomische Existenz zu führen.“
Neusachlicher lässt sich ein Plädoyer für historischen Materialismus in der Nachfolge Benjamins kaum formulieren: Die Sonderverwaltungszone als innovativstes Start-Up des Planeten um 2000. – Sehr kurze Zeit, das Viertel eines Jahrhunderts lang, schien der Einfluss Hongkongs auf China größer als umgekehrt. Das ungebundene Denken, die, wenn auch verdeckten Wege, es zu publizieren, hatten in der Zone fruchtbaren Boden. Es wäre schon zuviel, das Widerstand zu nennen, jedenfalls nach unseren elitär-europäischen Maßgaben.
Was Hongkong einmal war, eine Insel der Dekolonialisierung, ist ein Transitraum der Geschichte, aus dem der gedankliche Gegenentwurf zur heutigen Lage, weil er nicht publiziert werden darf, ins Exil getragen werden muss. Honkong untersteht per „Sicherheitsgesetz“, das jeden Flaneur und historischen Materialisten in die Defensive zwingt, der Regierung in Peking. Keine 2000 Kilometer südlich davon liegt eine Insel, die verkörpert, was die Zone Hongkong einmal war, der ins Weltregister eingetragene Name: Republik China (Taiwan). Für sie gilt, was für Hongkong einmal galt, insular, zugleich zentral zu sein, „Vorreiter des neuen Eigentumsbegriffs, der sich nicht an festen materiellen Beständen orientiert, sondern am Zugang zu Informationsströmen.“
In China, der ideodiktatorischen Großmacht, die sich auf dem Globus verpuppt, ist Information Eigentum eines repressiven Staatsapparats, der ihre Ströme lenkt zum Machterhalt. Aus dieser Perspektive bildet Taiwan mit Südkorea und Japan eine fragile Achse kapitalbasierter Demokratie in Ostasien.
Zurück zum Glück, kein letztesmal. Das glänzende Affidavit, das der Eintritt in die große Stadt beschwor und die demographische Forschung immer noch beschwört, ist nicht erloschen; im Gegenteil, wer es schafft, die Festung zu erreichen, versucht mit allen Mitteln zu bleiben. Nicht die Armut wird ihn ausweisen – die Politik, an deren erweiterte Form, den Krieg, wir jetzt erinnert werden, wird es tun.
Fotografien von Alf Böhmert, 1977