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Tag 121

Raum der Kapitulation //

Vor 81 Jahren setzt mit der Nacht der Sommersonnenwende die nachhaltigste Zäsur in der jüngeren Geschichte ein. Wie ist es möglich, dass einem Jahrzehnte nach Ende des II. Weltkriegs Geborenen jeder 22. Juni eine beruhigende, irritierend beruhigende Wahrnehmung erzeugt? Warum ist das so?

Weil das Datum zugleich den 8. Mai aufruft, den Tag, an dem das eingeschränkt Gute über das Böse schlechthin gesiegt hat, eine Gewissheit in der Geschichte?

Ein noch immer anschwellendes Meer an Fakten, an Theorien und Bildern in Schwarzweiß belegt den deutschen Angriff, Gegenwehr und Sieg der Alliierten. Minutiös dokumentiert und längst nicht ausgeschöpft sind Vertreibung und Vernichtung der europäischen Juden durch den nationalsozialistischen Staat. Dieser Teil der Geschichte verkörpert seinen Sieg in Israel, während der Sieg über die Deutschen viele Heimaten hat.

Der Triumph wurde am stärksten von der sowjetischen Führung beansprucht, heute von Russland, in einen Namen gebracht: Putin. der auf der Basis dieses Triumphs ein nationales Narrativ gezeichnet hat, dass dermaßen tief in die Geschichte greift, dass sie umgeschrieben werden muss – aus seiner Sicht. Seit dem frühen Morgen des 24. Februar 2022 geschieht das. Genaugenommen länger schon, seit 2014 (Annexion der Krim). Nun hat der Auftakt der Invasion vor vier Monaten mit seiner Signalwirkung und Analogie zum Überfall vom 22. Juni 1941 auf fast derselben Frontlänge von über 2000 Kilometern eine Paralalle ausgelegt, an der niemand vorbeikommt. Jetzt verschmelzen die Parallelen, das russische Narrativ wird zum nationalsozialistischen deutschen.

Der Gedanke an den 22. Juni – beruhigend, weil der Ausgang der Geschichte bekannt ist und irreversibel, wie es schien – wird kontrastiert vom Gedanken an die Fortsetzung der Geschichte. Nicht nur das Töten nimmt kein Ende, Denkmäler werden gestürzt, Bücher umgeschrieben, das kollektive Bewusstsein (das ein Narrativ erst legitimiert) unter Strom gesetzt, alle Kultur, die auf Erzählung beruht, wird geschleift und neu und größtenteils konträr errichtet.

(Benjamin im Passagen-Komplex spricht öfters vom kollektiven Unbewußten im Gegensatz zum Bewußtsein des Kollektivs, in dem die traumbildgleichen Utopien entstehen, die die kommenden Umwälzungen an den gesellschaftlichen Horiziont projizieren. Auf diese Art können auch unterschiedliche Kriegsparteien beschrieben werden. Das kollektive Unbewußte kann nur Kanonenfutter, Futter für den Fleischwolf sein.)

Die Angst vor einem Krieg, der uns alle trifft, verletzt und vernichtet, befeuert den Vorgang wie ein zusätzlicher Katalysator. Die Angst ist nicht neu, man wuchs damit auf. Zumindest wenn man wie ich zwischen 1945 und 1985 geboren wurde. Meinen Kindern ist sie fremd, die Angst. Die Kinder der Kinder wissen von Kriegen noch nichts.

Ich muss nicht mehr mit der Kalaschnikowattrappe und selbstgebauter Gasmaske durch die Müggelberge pirschen und Schützengräben zum Schutz vorm Atomschlag (NATO-DOPPELBESCHLUSS) ausheben. Das Elend befindet sich diesmal nicht hinter der Mauer, die für uns sowieso nichts anderes als das sichtbare Weltende, nicht zu überschreiten (NICHT BERÜHREN) bedeutete. Das Elend ist ein paar hundert Kilometer nah, und wie täglich zu lesen, von raketenbefeuerten Spürengköpfen leichthin und präzise zu erreichen. Oder nicht präzise, was es schlimmer macht.

Es ist hell. Am 22. Juni 2022 bin ich um 4 Uhr 45 am Schreibtisch und versuche herauszufinden, was es ist, das die Unruhe erzeugt. Es wird mir nicht gelingen. Gründe sprechen dagegen. Die Gründe aufsuchen, sortieren. Das Chaos in der Bibliothek beseitigen. Aufräumen. Ausmisten.

Die historische Analogie ist es nicht, die Unruhe erzeugt, die Ordnung blockiert. Der laufende Krieg beansprucht jede Ressource, auch die der Nichtbeteiligten. Der Krieg zwingt zum Denken. Das THEATER DES KRIEGES, wie Clausewitz die Analyse des Schlachtfeldes nannte, spielt ununterbrochen, man kommt ohne bekloppt zu werden nicht raus. Erstaunlich dennoch, dass fast alle bekloppt werden, auch die Rationalität scheint, wenn nicht verloren, doch neu definiert worden zu sein. GEWALT ist der Kipppunkt, die Klinge, an der die Rationalität, wenn sie nicht springt, ihre Achillesferse einbüßt. Die Klinge wird von hinten geführt.

Marcus Steinweg, ein Freund, zeigt auf die permanent wirkende Ökonomie der Gewalt, nicht nur während des Kriegs als Kulmination aller Konflikte. Gewalt ist immer schon da, es gibt sie, mehr, weniger, immer. „Aus der Bestreitung dieser einfachen Tatsache generiert sich gesteigerte Gewalt. Gewaltverleugnung ist Ausdruck von Gewalt. Es gibt schöne Seelen, die das nicht hören wollen.“ Um Gewalt bekämpfen zu können, muss sie gedacht werden. Dass alles getan werden wird, was gedacht werden kann, ist eine mögliche Definition des Messers, dass uns die Sprungkraft nimmt. „Gewaltverleugnung ist Ausdruck von Gewalt“, sagt Steinweg.

5:30 Uhr, Mittwochmorgen. Auch ohne spezifisches Datum sind die Nächte der letzten Monate perforiert. Geldsorgen, Produktionssorgen, Organisationssorgen. Philosophieren heißt Sterben lernen, sagt Montaigne. Mit der Angst vor dem Tod umgehen lernen, Ratio aufbauen, einsetzen, ökonomisch verwalten. Ein Bild davon gibt das Museum. Ein Leben im Museum kann friedlich sein, aber kein Leben.

Der 8. Mai 1945 hat ein Museum. Es trägt den Namen MUSEUM KARSLHORST und den Untertitel ORT DER KAPITUALTION. Den Rest entnehmen Besucher dem Kleingedruckten. Der Werdegang einer ehemaligen Pionierschule der Wehrmacht liest sich wie folgt: Vom Sitz der Sowjetischen Kontrollkommission zum Museum der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland zum Museum der bedingungslosen Kapitulation des faschistischen Deutschland im Großen Vaterländischen Krieg zum Deutsch-Russischen Museum zum Museum Berlin-Karlshorst. Vom bürokratisch historisch exakten zum Titel, der einen Stadtteil verkündet.

Als Anlass für die letzte, im April 22 erfolgte Umbenennung, gibt die Museumsleitung Russlands Überfall auf die Ukraine an; als Grund die durch keinen Titel gerecht zu benennende Teilnahme, zu benennende Taten und Opfer der Republiken und Bevölkerungsgruppen, die zur Sowjetunion gehörten und in der Roten Armee kämpften. Dass man ihnen allen Ehre tun würde mit einem Titel, der bis 1990 Sprachgebrauch war – KAPITUALTIONSMUSEUM – wird nicht erwogen. Doch ist es der Begriff der Kapitulation, der sämtliche Debatten überwölbt. Denn wer zu welchen Bedingungen vor wem kapituliert, ist ein Thema, das nicht allein zwischen zwei Kriegsparteien auszumachen ist, sondern zwischen allen.

Möglich, dass ein Sieg Niederlage ist zugleich. Das Haus in Karlshorst demonstriert das an sich. Wolfgang Benz, Historiker mit besonderem Forschungsgebiet Nationalsozialismus und Antisemitismusforschung, hat für den kommentierten Erhalt des Kapitulationsmuseums plädiert. Heute ist es das, was Benz 2005 kritisierte: „Karlshorst ist der ungeliebte Geschichtsort schlechthin; da geht niemand hin, man lässt es gern am Rande liegen.“

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