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Tag 120

Schloss im Himmel (8). Angst des Kindes vor dem Denkmal //

Zu den Mysterien, die mit dem Verschwinden der figürlichen Kunst aus dem öffentlichen Raum Geschichte werden, gehört das Denkmal – oder das, was dafür angesehen wird. Mit dem Verschwinden bekommt die Erinnerung zu tun, sie kehrt verstärkt zurück und nistet sich mit ihrer Mehrarbeit als Denkbild im Gedächtnis ein.

Zum Denkmal kommt das Kind nicht zum Spielen, als ich es das erste Mal sah, war es ein Schock. Die kindliche Wahrnehmung übersetzt die Gestalt aus Eisen oder Stein unmittelbar in Fleisch und Blut, und sieht sie gleichgestellt den Lebenden. Wir, erwachsen, erkennen den Eindruck der Mahn- und Denkmäler im Abstrakten, in Bauwerken wie zum Beispiel der Mauer, die die Stadt in zwei Städte trennte.

Die frühen Denkmäler wirken aus dem klar Figürlich-Gegenständlichen und der Überlebensgröße her. Mein erstes Denkmal traf auf mich in Greiz im Vogtland, wo meine Großeltern lebten. Es fuhr direkt aus der Erde auf mich zu, reckte Arme wie Zangen, schwarze Schlangen durch das Gitter, schrie mich stumm aus toten Augen unterm Helmrand an und sein kalter, nach Hundepisse stinkender Atem wehte töter als tot aus dem Tempel, den sie Rotunde nannten. Ich muss vier, fünf Jahre alt gewesen sein. Wann war das? 68/69, unsre Fotos waren noch schwarzweiß.

Gemeint war der zusammenbrechende Weltkriegssoldat, der eine für Millionen, und außen oben dran stand irgendein grausamer Spruch. Verpflichtung vermutlich, die Toten anzusehen. Bis das Grauen in der Ecke des Schlossparks seinen Reiz entwickelte, schlich ich mich jedesmal ohne hinzusehen vorbei. Er verfolgte mich noch in den Träumen, fuhr als Schatten über die Wand im Zimmer an der Straße nahe am Bahnübergang, und wenn die Lok pfiff, war der Horror komplett. Als ich das letztemal da war, war es nur noch eine schlecht aufgestellte Bronze und kein Kinderschreck mehr.

Ich war immer noch ein Kind, als der Drachentöter aus dem Gebüsch am Großen Bunkerberg im Friedrichshain brach. Es war ein Spaziergang mit meinen Eltern um den Ententeich im Park, plötzlich war da, grün wie die Sträucher ringsum, der Drache, der den schuppigen Hals aufwarf und seine Krallen in die Brust des sich aufbäumenden Pferdes grub, auf dem der Ritter saß, der im vollen Lauf aus dem Bunkerberg sprengte wie  … ich wußte nicht wie. Ich wußte nicht wie und weiß nur noch, dass das alles dunkel, düster, undurchsichtig war. Im Park war ich dann die nächsten Jahre nicht mehr. St. Georg reitet inzwischen, den Marstall im Rücken, bis zum nächsten Beben durchs synthetisierte Nikolaiviertel aufs Rote Rathaus zu.

Fast immer sind es die figürlichen Denkmale, die dem Kind die Furcht beibringen, gleich ob Götter, Musen, Herrscher, ob es Lenin, Marx, Moltke, Bismarck, Erzengel, Sphinxen, Greife, Völkerschlachtdenkmal oder Panzer sind, sie definieren jeweils ein erstes Mal und ein spezifisches Größenverhältnis zwischen Kind und untotem Rest der Welt. Später, wenn das Kind begreift, setzt der Denkmalsturz ein.

Von den frühkindlichen Schockmomenten gibt es viele, und unbenommen davon, dass ein Denkmal immer auch für eine Form von Sieg, Triumph und Herrschaft steht, ist jede Begegnung mit ihm ein in die Erinnerung gegrabenes Denkbild, das im Leben mehrmals abgerufen, das innere Denkmal bildet. Etwas, das Walter Benjamin in AUSGRABEN UND ERINNERN als Vorgang mit Zielvorgabe beschreibt: „Im strengsten Sinne episch und rhapsodisch muß daher wirkliche Erinnerung ein Bild zugleich von dem der sich erinnert geben …“

Heiner Müller, 1995, in einem Gespräch über Schreiben und Gedächtnis, konkretisiert das Denkbild: „Es geht nicht primär um das Erinnern von Ereignissen. Es geht um das Erinnern von Emotionen, von Affekten, die im Zusammenhang mit Ereignissen stehen. Um ein emotionales Gedächtnis. Das ist es, was das Erinnerte zu Material macht …“

Der Mensch, der sich erinnert, ist ein anderer, als der, der das Erinnerte erlebt hat. Er lebt die zweite Gegenwart. Wir gehen auf mehreren Straßen, wenn wir auf einer gehen, die wir als Kind gegangen sind und jetzt wieder gehen, egal wieviel Jahre später, egal wie verzerrt die Erinnerung ist.

Straßen wie Denkmäler erwähnt Benjamin in den Passagen-Aufzeichnungen („Hausmanissierung, Barrikadenkämpfe“) und zeigt auf den Boulevard de Sébastopol in Paris, der seinen Namen anläßlich des Sieges der französischen Truppen im Krimkrieg von 1855 bekam. Ein Kriterium dafür, ob eine Stadt modern ist oder nicht, nennt er auch: die Abwesenheit von Denkmälern. New York sei eine Stadt ohne Denkmäler, meinte Alfred Döblin, „sie halten sich dort nicht“. Das erschwert die Orientierung, zumindest für den von Denkmälern überfrachtete Innenstädte gewohnten Europäer.

Benjamin nennt die Pariser Passagen Denkmäler eines Nicht-mehr-Seins. Das ist natürlich jedes Denkmal seiner Herkunft nach, Gedächtnis, und damit es nicht verschwindet, braucht es eine Stütze, mnemosynon, Hilfe im Erinnern. Ein Erinnerungsraum, den man sich hohl denken und ausformen kann. Ein Denkmal von innen. Ein Schokoladenosterhase der Albträume.

Erinnerungsraum. Ein Wort, das Aleida Assmann für das, was wir das kulturelle Gedächtnis nennen, ins Patentregister eingetragen hat. Erinnerungsräume sind Schutzräume, die in der Angst des Kindes vor dem Denkmal und aus Träumen erstehen. Sie sind das lebendige Sein von Geschichte, das Spiel oder nicht, schon das Kind zum Historiker schulen kann im besten Sinn, dem dialektischen. Niemandem fällt es so leicht, ich in Gewesenes zu versetzen wie dem Kind. Wie dem Kind oder dem Träumenden.

Wenn wir auf das größte Flächendenkmal blicken, das die Welt kennt, die Stolpersteine in unseren Städten, sehen wir es: so weit die kleingeteilte (10 cm x 10 cm) Breitenwirkung ist, so tief ist ihre vertikale. Sie liegen wie eine Thermographik über dem Stadtplan, die nach Dichte der registrierten Verbrechen in Straße/Viertel/Stadtbezirk an Farbintensität zunehmen.*

Vielleicht ist die thermographische Methode eine zielführende (vorausgesetzt permanente Erinnerung wäre das Ziel). Heiner Müller, nach der ersten Krebsoperation 1994, ließ sich eine Thermoschreibmaschine ins Krankenhaus rechts der Isar kommen, die müden Finger brauchten die Tasten nur zu streifen, mit Körperwärme anzuhauchen, und der Buchstabe erscheine leise getippt auf dem Papier. Müllers Zehnfingersystem und jahrzehntelange Praxis (Schreibarbeit) ließen kaum Fehler zu, noch der sterbend Kranke machte kaum Fehler in den Gedichten, die er auf der Maschine tippte.

Heut nacht durchschritt ich einen Wald im Traum

Er war voll Grauen Nach dem Alphabet

Mit leeren Augen die kein Blick versteht

Standen die Tiere zwischen Baum und Baum

Vom Frost in Stein gehaun Aus dem Spalier

Der Fichten mir entgegen durch den Schnee

Trat klirrend träum ich seh ich was ich seh

Ein Kind in Rüstung Harnisch und Visier

Im Arm die Lanze Deren Spitze blinkt

Im Fichtendunkel das die Sonne trinkt

Die letzte Tagesspur ein goldner Strich

Hinter dem Traumwald der zum Sterben winkt

Und in dem Lidschlag zwischen Stoß und Stich

Sah mein Gesicht mich an Das Kind war ich.

Wird man, wenn man auf sich selber blickt, zum Denk-Mal? ist die Frage eines Sterbenden und auch die Frage eines Kindes. Und mehr, nämlich Einübung in den Dialog, der die eigentliche Leistung der Zivilisation ist.

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