Efeu //
Er klettert die Wand hoch und klammert sich mit seinen kleinen Pfoten fest wie ein seltsames Tier. Er hinterlässt Spuren. Die weiße Wand ist mit braunen Flecken und Punkten übersät. Die Spuren sehen aus wie Exponate in einem naturwissenschaftlichen Museum, Steinstücke, auf denen eine prähistorische Kreatur eingefroren ist. Eine Vielzahl von Beinen gräbt sich in die Oberfläche, gräbt sich in den zivilisierten, gestrichenen Beton. Langsam. Tag für Tag. Aufwärts, seitwärts, abwärts, beidwärts, Efeu.
Die Spuren haben etwas Unheimliches an sich. Spuren des Kampfes der Natur mit dem Menschen. Eine vage Vorahnung von Gefahr. Der Efeu an der Wand. Wenn er noch grün ist und seine smaragdfarbenen Ranken ein dichtes Netz um Häuser und Zäune legen, findet niemand Verwerfliches an ihm. Er kriecht sanft, umarmt zart mit seinen Zweigen. Erst nach seinem Tod bemerkt man die Überreste seines Körpers, die in die Oberfläche eingedrungen sind, man sieht sein zerstörerisches Werk. Und ahnt, das die Spuren der von zarten Pfoten nur die Oberfläche sind. Das Tier wohnt darunter.
Als ich ein Kind war, sagte mir meine Mutter, dass Efeu im Haus Unglück und Tod bedeutet – warum hatten wir dann einen? ein Mysterium, ich weiß es nicht mehr. Ich weiß nicht, woher dieser Mythos stammt, aber ich erinnere mich, dass ich überrascht war, dass dieser zierliche Zweig, der an der Wand hochkrabbelt, Unglück bringen kann. Wenn ich mir jetzt die zerfressene Wand des Hauses ansehe, verstehe ich, woher diese Angst kam. Die Natur fordert ihren Tribut, umsonst wächst sie nicht. Sie ist autark, im Gegensatz zu uns.
Der Efeu an der Wand. Löwenzahn, der durch den Asphalt sprießt, Flechten, die an einem Denkmal nagen. Wenn, selten im Jahr, Schnee an der Wand anbackt, schmilzt er zuerst auf den zarten Efeupfoten weg. Das Tier gräbt sich seinen Weg aus der Schneewehe nach oben.
„Der Mensch und das Lebendige, Grüne, Organische, diese Natur, sind unvereinbar. Der Mensch braucht, um zu überleben, eine andere Natur, die ihm angeboren ist, gefügig und mächtig, wie Maschinen, wie das Bewusstsein.“ In seinem Artikel „Die eiserne Natur“ spricht Andrej Platonow von der gefährlichen Unberechenbarkeit, dem Chaos und dem Wahnsinn der lebendigen Natur, die sich ihrer sanften Grausamkeit nicht bewusst ist. Er nennt sie die „liebende Mutter“, und befürchtet zugleich, dass sie ihn mit ihrer sorgenden Umarmung erwürgen könnte. Der Efeu an der Wand.
Sehe ich mir länger die sanften Zweige des Efeus an, erwacht diese Urangst vor der allzu mütterlichen Umarmung in mir. Die anmutigen Kurven des Wachstums kann ich nicht sehen, ohne die räuberischen Saugnäpfe seiner winzigen Tentakel und Tausende von scharfen Pranken wahrzunehmen, die sich über die Hauswand in jede Ritze zwängen, und wo keine Ritzen sind, sie beharrlich erzeugen. Edvard Munch hat „Roter Efeu“ gemalt, das Haus ertrinkt in rotem Efeu, wie aus einem Stephen King-Roman, bis zum Dach in Blut.
Der Efeu an der Wand ist ein immergrünes Symbol für den endlosen Kreislauf von Leben und Tod, ein Feiertag, ein dionysischer Karneval. Und der gestorbene Efeu hinterläßt seine Spuren als tragische Erinnerung an die Konfrontation. Es ist kein Zufall, dass Efeukränze den fröhlichen Dionysos und die schöne Melpomene umkränzen. Die theatralische Maske und das Schwert in den Händen der Muse, der tragischen, als Symbol für die Unausweichlichkeit der Strafe für jeden, der den Willen der Götter bricht. Haben wir gegen Gottes Willen verstoßen, indem wir unsere eigene Natur geschaffen haben? Ist der Efeu an der Wand ein Symbol für die Unausweichlichkeit der Strafe?
»Ein köstlich Gewächs ist der Efeu grün,
Der das alte Gemäuer umspannt.
Ein leckeres Mahl ist bereitet für ihn
An der kalten, einsamen Wand.
Er höhlt die Mauer, durchwühlt den Stein,
Der verzehrenden Gier nur bedacht.
Welch herrliches Mahl der Staub muß sein,
Den Jahrhunderte ihm vermacht!
Wo kein Leben mehr will erblühn,
Blüht noch der alte Efeu grün.«
(Charles Dickens, Denkwürdigkeiten des Pickwick-Klubs)
Efeu an der Wand. Wenn wir alle aus diesem Haus verschwunden sein werden, wird er es mit seinen zarten Gliedmaßen umarmen, mit seinen Beinchen tief in die Wohnungen kriechen, sich um Stühle, Tische, Bücherregale, Lampen, Betten wickeln. Langsam, langsam aber unaufhörlich, kriecht, schleicht er, der grüne, der rote, der graue voran.